Kategorie: deep insight.

Caminho Português – Tag 16: Von Finisterre nach Santiago de Compostela

Nach dieser Nacht möchte ich eigentlich nur noch eines: So schnell wie möglich weg von diesem Ort, und so stehe ich mit geordnetem Sturmgepäck auf dem Rücken um 09:00 Uhr an der Bushaltestelle und erwarte sehnlichst die Ankunft und vor allem die anschließende Abfahrt des Busses nach Santiago de Compostela.

Der Bus fährt vor, die Tür geht auf, ich steige ein (einige andere auch noch), die Tür geht zu, der Bus fährt ab und kaum zwei Stunden später stehe ich am zentralen Busbahnhof von Santiago de Compostela. Mein erster und zugleich wichtigster Punkt auf der To-Do-Liste für heute ist der, ein Einzelzimmer zu finden. Ich bin von den letzten Nächten extrem geschlaucht und wünsche mir gerade nichts mehr als ein großes Bett, eine Türe, die ich hinter mir schließen kann, und vor allem: Ruhe beim Schlafen! Ich setze mich in ein Café, bestelle einen großen Milchkaffee und beginne mit meinem Handy die Suche nach einem Hotel.

Dabei werden mir wieder einmal eindrucksvoll die Grenzen meines technischen Verständnisses aufgezeigt: Ich gehe auf die Seite booking.com (um den Verdacht des Product Placements – neudeutsch für Schleichwerbung – aus der Welt zu schaffen: Es gibt natürlich noch viele weitere hervorragende Hotelbuchungsseiten, wie z.B. trivago oder HRS oder oder oder), gebe dort meinen Aufenthaltsort ein, den Zeitraum, für den ich suche, sowie die Information, dass ich ein Einzelzimmer für eine Nacht suche. Dann nimmt das Unheil seinen Lauf: Obwohl ich alles versuche, bekomme ich nicht mehr als eine Liste von Hotels in der Nähe angezeigt und einen grünen, unverschämt blinkenden Button, der mir sagt: „Wenn Sie die Verfügbarkeit und Preise sehen wollen, geben Sie bitte ihre Reisedaten ein.“ Als ob ich das nicht schon ganz zu Anfang getan hätte! Aber gut, ich beuge mich, drücke den grünen Button und es tut sich: Nichts. Nach einer Viertelstunde gebe ich entnervt auf, schultere meinen Rucksack und laufe zum Hostel „The Last Stamp“, in dem ich bei meinem letzten Aufenthalt bereits genächtigt habe. Das ist zwar wieder kein Einzelzimmer, aber immerhin weiß ich diesmal schon, was mich erwartet. Auch ohne Internet habe ich nun also eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden, das hätte ich also überhaupt nicht gebraucht. Generell glaube ich ja, dass dieses Internet nur ein Hype ist und dass sich das langfristig nicht durchsetzen wird. Habe ich ja grade wieder bewiesen: Ohne geht es auch, und sogar schneller.

Nachdem ich mein Bett bezogen habe, mache ich mich auf den Weg in die Stadt, denn ich muss noch einmal zum Pilgerbüro. Diesmal allerdings nicht um eine Compostela abzuholen, sondern weil gleich daneben ein Verkaufsbüro von Alsa ist, der Busgesellschaft, die Fernbusreisen anbietet. Für 33 Euro erstehe ich eine Fahrkarte für den Bus morgen um 12:00 Uhr. Ich hätte auch schon um 10 Uhr fahren können, das ist mir dann aber doch zu früh, schließlich bin ich ja im Urlaub und da muss es morgens in der Früh noch nicht so hektisch werden. Der Bus um 17:00 Uhr wiederum wäre mir zu spät, ein bißchen anspruchsvoll ist man dann ja doch, also halt der um 12:00 Uhr. In nur etwa vier Stunden werde ich somit eine Strecke überbrücken, für die ich zuvor zehn Tage gebraucht habe. Verrückte Welt!

Alle Pflichttermine sind nun abgehakt, ich habe mein Busticket, ich habe ein Bett für die Nacht, und ein Lokal für das Abendessen habe ich mir auch schon gesucht: Wenn man am Hotel Parador die Treppe hinuntergeht, liegt es gleich an der Ecke, an der man rechts zum Pilgerbüro abbiegt. Auf großen Tafeln preisen sie dort das Tagesmenü für neun Euro an, wie üblich bestehend aus erstem und zweitem Gang, Dessert, Brot und Wein.

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Hätte ich beim Knipsen dieses Bildes doch bloß schon geahnt, vor was für einem Problem ich wenige Tage später stehen würde – ich hätte mir den Straßennamen notiert.

Den Rest des Tages verbringe ich mit ausgiebigem Shopping, was nicht ohne Tücken verläuft: Als ich vor einigen Tagen mit meinen Mädels hier war, habe ich diesen wirklich tollen Laden („The Pilgrim“) entdeckt und mit vorgenommen wieder hier her zurückzukehren. Um den Laden wiederzufinden, habe ich extra ein Foto gemacht. Dank diesem weiß ich nun zwar wieder, wie der Laden von außen aussieht, auch dass er die Hausnummer 15 hat, blöderweise ist auf dem Foto aber kein Straßenname zu sehen. Also laufe ich in jeder Straße der Altstadt von Santiago zum Haus mit der Nummer 15, bis ich irgendwann den Laden finde. Der Einsatz hat sich letztlich aber auf jeden Fall gelohnt, denn hier bekomme ich alles, was ich für mich und als Mitbringsel kaufen wollte.

Nachdem ich nun also mehr oder weniger gewollt die komplette Altstadt abgelaufen habe, gehe ich noch einmal zur Kathedrale, nehme in einer der Bänke Platz und bleibe eine kleine Ewigkeit in mich gekehrt dort sitzen. Danach laufe ich die paar Meter weiter zum bereits erwähnten Restaurant, trete ein, setze mich und tele der Kellnerin mit, dass ich gerne das vor der Tür beworbene Tagesmenü hätte. Sie bringt mir daraufhin eine Karte, auf der zwei Menüs verzeichnet sind: Ein Tagesmenü für 15 Euro und ein Spezialmenü für 25 Euro. Als ich ihr sage, dass ich gerne das Tagesmenü hätte, zeigt sie auf die Karte und sagt, dass das das Tagesmenü sei. Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich das draußen beworbene Tagesmenü für neun Euro meine, worauf sich ihre Miene verfinstert, sie an die Theke geht, einen handgeschriebenen Zettel holt, auf dem genau das Menü steht, und mir diesen wortlos auf den Tisch legt. Mit einem Mal ist jegliche Freundlichkeit verflogen, was mir aber egal ist, denn ich will sie ja nicht heiraten, sondern nur etwas essen.

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Ein letzter Abend in Santiago de Compostela mit einem beeindruckenden Sonnenuntergang. Noch vor wenigen Tagen durfte ich bereits einen ähnlichen Anblick genießen, da war es allerdings der Sonnenaufgang, dem ich auf dem Weg nach Finisterre entgegen gelaufen bin.

Das Essen ist okay. Nicht gut und nicht dazu motivierend, noch einmal herzukommen, aber es ist okay. Vielleicht bin ich aber auch von dem gestrigen Menü in Finisterre zu sehr verwöhnt, denn heute habe ich wieder der gleiche bestellt. Gesättigt und von dem Wein leicht angebrütet laufe ich durch eine wunderschöne Abenddämmerung zurück zur Herberge, wo ich von einer barmherzigen Ohnmacht übermannt werde.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 15: Von Muxía nach Finisterre

Die heutige Etappe wird hart und bedarf daher intensiver Vorbereitung. Zunächst einmal schlafe ich bis um sieben Uhr, mache mich und mein Gepäck startbereit, nehme ein Frühstück zu mir und bin um 07:40 Uhr startklar.

DSCF6667Gleich zu Beginn bekomme ich eindrucksvoll gezeigt, wo der Hammer hängt, denn es geht bergauf. Steil bergauf. 270 Höhenmeter auf einer Strecke von knapp zwei Kilometern mag sich jetzt erstmal nicht nach viel anhören, aber ich trage zwölf Kilogramm Gepäck auf meinen Schultern und habe Beine, die sich anfühlen als trüge ich Zementschuhe. Dazu knallt die Sonne schon jetzt um 08:00 Uhr gnadenlos vom Himmel, so dass selbst der Schatten beschlossen hat heute hitzefrei zu nehmen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass es auf dieser Bergetappe (genauso wie übrigens auf der gesamten Reststrecke auch) nicht einen einzigen Quadratzentimeter Schatten gibt.
Ich treffe am Fuß des Berges auf Carlos. Er kommt aus Mexiko und ist hier mit dem Fahrrad unterwegs. Die folgenden Kilometer liefern wir uns einen erbitterten Kampf, bei dem wir uns keinen Meter schenken, den ich aber letztlich für mich entscheiden kann. Auch wenn ich schimpfe wie ein Rohrspatz, als ich mich den Berg hinaufkämpfe: Mit einem Fahrrad ist der Aufstieg garantiert noch beschwerlicher, denn aufsitzen ist bei der Steigung schlichtweg nicht drin und ein bepacktes Fahrrad schieben macht auch keinen Spaß. Oben auf der Bergkuppe einigen Carlos und ich uns auf ein „Unentschieden“, als ich mich erst mal königlich verlaufe und ihn dann auf dem Rückweg an einer Kreuzung wiedertreffe. Danach geht es erstmal konstant bergab und Carlos ist mit seinem Fahrrad nicht mehr aufzuhalten und einzuholen. DSCF6672Die heutige Etappe führt konstant durch das absolute Nichts. Wenn mal ein Weiler (hier nie größer als drei oder vier Häuser) auf dem Weg liegt, kündigt sich dieser bereits lange im Voraus durch einen bestialischen Gestank an. Ich meine, Landwirtschaft ist ja schön und gut und wichtig und so, und ich kenne das ja auch aus meiner Heimat, aber das hier ist echt eine Zumutung: Es stinkt bestialisch, in etwa so als wäre hier bereits vor längerer Zeit irgendetwas gestorben. Meinen Würgereiz unterdrückend möchte ich jedes Mal schneller werden, alleine meine Beine verweigern den Gehorsam. DSCF6673

Erst kurz vor Lires treffe ich Carlos wieder in einem kleinen Container sitzend, der mit einem Snack- und Getränkeautomaten ausgestattet ist. Meine Wasservorräte habe ich zwar schon aufgebraucht, aber bis Lires sind es nur noch zwei Kilometer. Dort muss ich eh Halt machen und den Pflichtstempel des heutigen Tages abholen, der mich dazu qualifiziert, die offizielle Urkunde zu erlangen, die bestätigt, dass ich zu Fuß nach Finisterre gelaufen bin.
In Lires gibt es nichts, aber auch absolut überhaupt gar nichts. Als ich das Dorf betrete, halte ich Ausschau nach einem kleinen Laden, in dem ich den Stempel erhalte und vor allem – bei den aktuellen Temperaturen sehr wichtig – meine Wasservorräte auffüllen kann, denn meine Trinkflaschen sind von innen staubtrocken. Als ich das Schild passiere, das den Ortsausgang markiert, kehre ich um und laufe den Weg wieder zurück. Irgendetwas muss ich übersehen haben, denn ich bin an keinem Laden oder Café vorbeigekommen.

DSCF6675An einem Haus klebt ein kleines Plakat, dass ich auf dem Hinweg verpasst habe. Kein Wunder, denn eigentlich handelt es sich dabei um ein laminiertes DIN A4-Blatt, auf dem folgendes steht: „Selle su credencial en la mesa del patio“. Aha, ich soll also den Stempel vom Gartentisch nehmen und mein Credencial selbst abstempeln. Klare Anweisung, eigentlich. Sehr schön und vor allem äußerst kreativ finde ich die deutsche Übersetzung: „Dichtung carte des Camino de Santiago in der terrasse tabelle“. Danke Google, das ist echt süß! Nachdem ich den Stempel in meinen Pilgerpass gesetzt habe, wird mir eines erst so richtig bewusst: Ich habe kein Wasser mehr und es gibt hier in Lires nichts, was auch nur im Entferntesten an eine Bar, ein Café oder gar einen kleinen Laden erinnert. Lires liegt etwa auf der Hälfte der Strecke und auf den folgenden fünfzehn Kilometern bis Finisterre sind zwar zwei kleine Weiler auf der Karte zu sehen, aber keines der sonst üblichen Symbole für eine Verpflegungsstation. „Achten Sie darauf ständig einen Liter Wasser als Reserve dabeizuhaben“, so steht es in meinem Reiseführer. Hatte ich ja, habe ich aber aufgebraucht, nachdem ich die 1,5 Liter getrunken habe, die ich zusätzich zur Reserve dabei hatte. Und außerdem hatte ich Lires fest eingeplant als Wasserstelle, denn wo es einen Stempel gibt, gibt es immer auch eine Bar. Dass es überhaupt nichts gibt, ist ein Novum.
DSCF6679Ich bin heilfroh, als ich etwa 1,5 Stunden und sieben Kilometer später eine Holzbank und einen Holztisch sehe, die unter einem mit Holzlatten und Kunststoffplane notdürftig zusammengezimmerten Unterstand stehen und mit einem Schild markiert sind, auf dem „Pilgrim Information“ geschrieben steht. Der daneben gemalte gelbe Pfeil weist zum Wohnhaus, wo ich dann auch hingehe. „Do you sell water?“ ist alles, was ich mit staubtrockener Kehle noch zustande bringe. „No, we don’t sell water, but you can have a glass“, sagt die Frau des Hauses und reicht mir ein Glas. Ich stürze es runter als sei ich gerade zwei Wochen durch die Wüste zu einer Wasserstelle gelaufen. Das Bild, das ich abgebe, muss so aussehen wie die R’activ-Werbung aus den frühen Neunzigerjahren, jedenfalls schaut sie mich mitleidig an und füllt meine Flaschen auch noch für mich auf. Damit schaffe ich es dann auf jeden Fall bis nach Finisterre.
DSCF6682Die letzten Kilometer sind noch einmal richtig übel, denn nicht nur meine Beine sind kurz davor den Dienst zu quittieren, sondern in dem Moment, als ich den Atlantik sehe und noch fünf Kilometer an ihm entlangwandern muss darf, fängt auch mein Kopf an mich zu fragen, ob ich eigentlich noch ganz sauber bin. Den ganzen Tag über konnte ich meinen Kopf mit seinen Hausaufgaben beschäftigen und jetzt quengelt er wie ein kleines Kind: „Sind wir bald da? Ich hab Durst, ich muss mal! Wann ist „bald“?“. Dann entdecke ich an einer Straßenkreuzung eine kleine Bar, in die ich sofort hineinstürze (okay, mit Entledigung meines Rucksacks und kurzem Durchatmen dauert das schon ein paar Minuten) und eine eiskalte Coca-Cola bestelle. Anstatt mir die übliche Schale mit Erdnüssen auf den Tresen zu stellen, verschwindet der Wirt in einem dunklem Raum hinter dem Tresen und kommt mit einem kleinen Porzellanschälchen zurück aus dem eine Gabel hervorschaut. Darin dampfen munter Oktopus- und Kartoffelstücke vor sich hin – ich fühle mich wie im Paradies! Frisch gestärkt nehme ich die letzten zwei Kilometer in Angriff, die mich durch flimmernde Luft über vor Hitze fast weichem Asphalt immer entlang des weißen Sandes der Playa do Langosteiros nach Finisterre bringt.
Finisterre ist auf den ersten Blick laut, dreckig, voller Menschen. Der zweite Blick bestätigt das – ganze Reisebusse fahren an mir vorbei in Richtung des Leuchtturms am Kap. Wie schön ruhig und beschaulich war doch im Vergleich dazu Muxía!
Zunächst begebe ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft, mein Reiseführer gibt dazu ein paar Tipps. Die Herberge, die sich am besten anhört, nehme ich, checke ein und werde das am nächsten Tag bitter bereuen. Doch zunächst nehme ich eine ausgiebige Dusche um meine gepeinigten Knochen wieder einigermaßen zu versöhnen und zu einer weiteren Zusammenarbeit mit mir zu bewegen.
DSCF6684Dann mache ich mich auf den Weg den Ort zu erkunden. Bei der staatlichen Herberge hole ich mir die ehrlich verdiente Finisterrana ab, für deren Stempel ich ja – wie bereits berichtet – ein paar Extrakilometer gelaufen bin.
Dann laufe ich durch den Hafen, bis ich wieder einen der mittlerweile so vertrauten gelben Pfeile sehe. Ein Wegstein markiert die Distanz bis zum Ende der Welt mit knapp drei Kilometern, das ist gut machbar. Die kurvige Straße schlängelt sich am Berg entlang und mit jedem Meter nimmt die gefühlte Verkehrsdichte – sowohl an motorisierten Vehikeln aller Art als auch an Fußgängern – merklich zu, bis ich am Ziel ankomme: Ein Souvenirladen reiht sich an den nächsten, dazu gibt es noch zwei Gastronomiebetriebe zwischen Parkplatz und Leuchtturm zu passieren – das alles auf gerade einmal einhundert Metern.

DSC_0855Ich passiere die 0,0-Kilometermarkierung natürlich nicht ohne das obligatorische Foto von mir am Stein als Beweis für die Nachwelt zu machen, dann laufe ich am Leuchtturm vorbei zu den Felsen, klettere so weit wie möglich hinunter, setze mich und schaue ins Nichts. Ich weiß nicht mehr, welches Volk es genau war – ich glaube, es waren die Kelten, die in genau diesem Punkt, an dem ich jetzt sitze, das Ende der Welt sahen (daher auch der Name Finisterre: aus dem Lateinischen „Finis terrae“ = Ende der Welt) und alles, was sich dahinter befindet nur das „Meer des Vergessens“ nannten.
Ich bleibe einige Stunden hier sitzen und beende meine Hausaufgaben. Dafür brauche ich Ruhe und die Magie dieses Ortes – außerdem möchte ich nicht, dass mich jetzt jemand sieht oder stört. Es ist schon kurz vor sechs als ich aufstehe, mich von diesem Ort verabschiede und den Rückweg ins Dorf antrete. DSCF6696Etwa auf halber Strecke entdecke ich einen Wegweiser, der mir auf dem Hinweg nicht aufgefallen ist, genauso wenig wie der Schotterweg, der sich im rechten Winkel von der Straße abzweigend den Berg in Richtung Klippe schlängelt. „Cemeterio“ steht auf dem Schild, ein Friedhof also. Als ich hinunterschaue, kann ich auf der Klippe mehrere Steinquader entdecken, die ich schon vielfach auf dem Caminho gesehen habe: Hier in Portugal und Spanien werden die Toten eher selten wie bei uns unterirdisch begraben, sondern in bienenwabenähnlichen Bauten in mehreren Etagen über der Erde. Aber kein Ort war so magisch wie dieser hier: Nach dem Übergang vom Leben in eine andere Welt hier seinen Frieden zu finden, mit bester Aussicht auf das Meer des Vergessens – das ist schon echt episch!
Zurück im Ort wird es Zeit für das Abendessen. Im Hafen gibt es hierfür massenhaft Gelegenheit, alle Restaurants bieten das Dreigängemenü für zwölf Euro an. Ich bestelle im ersten Gang eine Fischsuppe, im zweiten Gang eine Meeresfrüchtepaella und zum Dessert eine Zitronencreme. Zuerst bekomem ich einen Brotkorb und eine fast noch ganz volle Flasche Rotwein auf den Tisch gestellt und als ich endlich verstehe, dass das alles für mich vorgesehen ist, weiß ich schon wo die Reise hingeht.

DSC_0863Die Fischsuppe entpuppt sich als stattliche Terrine, aus der ich meinen Teller dreimal fülle, bevor ich kapituliere. Die Kellnerin grinst mich zufrieden an, als sie das Schlachtfeld abräumt. Wahrscheinlich hat sie mit dem Koch gewettet, ob ich die Portion schaffe, und hat gewonnen. Den Paellaberg, der danach den Tisch in die Knie gehen lässt, bezwinge ich alleine schon deswegen, weil es eine Schande gewesen wäre dieses Gericht zurückgehen zu lassen. Um es kurz zu machen: Das war die beste Paella meines Lebens! Die Zitronencreme danach: Ein Traum. An mehr erinnere ich mich leider nicht, denn mit einer Flasche Rotwein im Kopf wanke ich aus dem Lokal in Richtung Herberge.

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Ganz wichtig auf den letzten Metern vorm Ziel: Niemals schneller als 10 Stundenkilometer pilgern, hier gibt es eine Radarkontrolle!

Ach ja, die Herberge. Das hatte ich ja schon verdrängt. Im Schlafsaal sind jeweils immer zwei Stockbetten aneinandergeschoben, nur getrennt durch eine 25 Millimeter dicke Pressspanplatte. Dass es aufgrund der hochwertigen Bauweise der Stockbetten jedes Mal einen Riesenkrach macht, wenn sich jemand im Bett herumdreht, daran habe ich mich bereits gewöhnt. Mit Ohropax in den Ohren bekommt man davon (fast) nichts mit. Aber das hier ist eine andere Situation, denn wenn ich einer umdreht im Schlaf, bringt das gleich zwei Stockbetten ins Wanken und drei andere Pilger dürfen daran teilhaben. Ich kann Euch zwei Dinge zu dieser Nacht sagen: Mindestens einer in unserer Viererkoje hatte einen sehr unruhigen Schlaf und ich habe noch nie auf dem gesamten Caminho so beschissen geschlafen wie in dieser Nacht. Wie ich am nächsten Morgen aussehe und wie ich mich fühle, möge sich nun jeder selbst vorstellen. Zunächst einmal heißt es wie jedes Mal:
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 14: Von Olveiroa nach Muxía

Als ich wach bin, bin ich wie gerädert – so bescheiden habe ich noch nie geschlafen, und das, obwohl wir nur zu zweit sind, mein temporärer Mitbewohner nicht schnarcht (was ich aufgrund des Einsatzes von Ohropax sowieso nicht mitbekommen hätte; die Information möchte ich Euch aber dennoch nicht vorenthalten) und auch von dem Straßenfest nichts zu hören war (wegen: siehe oben). Es ist 07:40 Uhr, als ich endlich aufstehe, mein Zeug zusammenraffe und mit dem Bündel in der einen Hand und dem Rucksack in der anderen Hand auf den Flur gehe um dort alles für den heutigen Tag zu packen.

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Der Bäcker ist wohl länger nicht mehr hier vorbeigekommen und die Bewohner sind – wie Nomaden – weitergezogen auf der Suche nach Nahrung.

Das Frühstück – bestehend aus Café con Leche – gedenke ich heute in Senante einzunehmen, dafür muss ich allerdings erst einmal acht Kilometer laufen. Als ich mich und mein Zeug soweit sortiert habe, marschiere ich los, beginnend bei dem Wegstein „Km 23.xxx“, der mir die noch verbleibende Distanz nach Muxía anzeigt.
Ich fühle, wie ich förmlich schwerelos über den Asphalt beziehungsweise über die Kieswege fliege und ehe ich mich versehe, bin ich knappe 1,5 Stunden später auch schon im Landeanflug auf meinen Kaffee. Bis hierher ist landschaftlich nicht viel passiert, außer, dass ich ständig durch eine unfassbar schöne Gegend laufe, die ich gerade sehr genieße, in der ich aber sonst nicht tot überm Zaun hängen wollte, so abgeschieden ist es hier. Wie auch schon während der vergangenen zwei Tage frage ich mich andauernd, wie sich die hier lebenden Menschen mit den elementarsten Dingen versorgen.

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Es ist ja zu befürchten, dass diese Gerätschaft noch immer verwendet wird. Vom Zustand her passt diese Kreissäge auf jeden Fall zu den Häusern dieser Region.

Klar, hinter jedem Haus gibt es einen Garten, Kühe, Ziegen und Schafe sind auch reichlich vorhanden, womit schon mal eine gewisse Grundversorgung gewährleistet ist. Aber alles andere? Mal abgesehen davon, dass ich kaum Autos oder sonstige motorisierte Vehikel sehe (außer natürlich der Bäcker, der hat einen kleinen Lieferwagen. Bisher bin ich praktisch jeden Morgen live dabei gewesen, wie er durch die Dörfer fährt und Plastiktüten mit Backwaren an die Türklinken der Häuser hängt) und die Menschen möglicherweise über einen Lieferdienst versorgt werden – wenn die mal vergessen etwas bestimmtes zu bestellen, dann gibt es das halt die ganze Woche über nicht, oder zumindest solange, bis der Lieferdienst das nächste Mal klingelt.

DSCF6611Während ich diesbezüglich vor mich hin sinniere, taucht vor mir auch schon Quintáns auf, was bedeutet, dass auch schon die nächsten sechs Kilometer geschafft sind. Ich habe das Gefühl, dass ich heute einen Lauf habe 8Notiz an mich selbst: Hierfür bitte fünf Euro ins Phrasenschwein schmeißen!). Jetzt sind es also nur noch zehn Kilometer und plötzlich jagt eine Sehenswürdigkeit die nächste: Ich passiere das ehemalige Kloster von San Martino de Ozón und den dazugehörigen Hórreo (der mit 27 Metern Länge größte Kornspeicher Galiziens), etwas weniger als eine Stunde später lasse ich das älteste Kloster an der gesamten Costa da Morte – das Benediktinerkloster Monasterio de San Xulián de Moraime – rechts liegen, nicht ohne zuvor die dazugehörige Kirche in Augenschein genommen zu haben, was sich alleine deswegen schon lohnt, weil ich direkt nach Betreten des Gebäudes erstmal eine breite Treppe hinabsteigen muss um zum Hauptportal der Kirche zu gelangen.

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Nach über 350 Kilometern Wegstrecke über Asphalt, Waldwege und Schotterstraßen genieße ich es sehr, die Etappe vor Muxía über Holzstege am Strand entlang zu laufen.

Dann steigen plötzlich mein Puls und meine Laufgeschwindigkeit ins Unermessliche, denn wie aus dem Nichts lugt plötzlich vor mir der Atlantik zwischen den Bäumen hervor und ich empfinde die unbändige Freude darauf, mit meinen geschundenen Füßen den feinen weißen Sand des Playa de Espineirido zu berühren, während ich über einen Bohlenweg die letzten (Kilo-)Meter gen Muxía bestreite.

Was soll ich jetzt, da ich diesen Ort intensiv besichtigt habe, im Nachhinein zu Muxía sagen? Mit immerhin 1600 Einwohnern ist es eines von den verschlafenen Fischerdörfern, wie wir alle sie aus diversen Rosamunde-Pilcher- (bzw. in diesem Fall eher Inga-Lindström-)Verfilmungen kennen: Idyllisch, sehr schön anzuschauen, aber für sehr viel länger als einen Tag definitiv ungeeignet. Nachdem ich den Ort in seiner gesamten Länge (1,2 Kilometer) und Breite (zwei Straßen) mehrfach durchschritten habe, beschließe ich meinen ursprünglichen Gedanken zu verwerfen. Von mehreren Mitpilgern, die sich als Wiederholungstäter outeten, habe ich nämlich gehört, wie wunderschön Muxía sein soll, und habe daher die Option in Betracht gezogen, noch eine weitere Nacht hier zu bleiben. Das lasse ich wohl mal eher…

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Das ist sie also, die Kapelle der Virgen de la Barca. Der Legende zufolge hat sich der Apostel Jakobus hier am äußersten Ende der damals bekannten Welt zurückgezogen, um zu beten. Zutiefst verzweifelt über die Egozentrik der Menschheit soll ihm hier die Gottesmutter Maria auf einem steinernen Boot erschienen sein und ihn ermuntert haben, die Missionierung fortzusetzen. Daraus leitet sich auch der Name der Kapelle ab: „Jungfrau vom Boot“. Am 25.12.2013 brannte die Kapelle infolge eines Blitzeinschlages vollständig aus und wurde notdürftig wieder aufgebaut.

Stattdessen laufe ich vor zum Kap, wo die altehrwürdige Virxe da Barca steht, oder besser: das ihr gewidmete Heiligtum.
Die Aussicht ist… tja, der Deutsche gebraucht hierfür gerne das Wort „unbeschreiblich“, das dadurch auch schon entsprechend ausgelutscht ist. Es ist aber nun mal wirklich nicht zu beschreiben, denn ich stehe selten an einem Kap am Atlantik und schaue über den Punkt hinaus, an dem die Welt endet. Ich bleibe eine kleine Ewigkeit sitzen und schaue aufs Meer. Hemingway hätte seine wahre Freude an diesem Motiv gehabt. „Der alte Mann und das Meer“ schrieb er ja in Teilen in der Bodeguita del Medio in Havanna. Nachdem ich dort in genau dieser Bar auf meiner Kuba-Reise ein, zwei, zwölf Daiquiris intus hatte, hatte ich das Gefühl ihm gegenüber zu sitzen und darüber zu reden. Und wer weiß: Vielleicht hatte er damals genau dieses Motiv vor Augen, das ich hier gerade inszeniere.

Ich schrecke hoch, es dämmert bereits. Ich muss wohl eingeschlafen sein, voll und ganz der Magie dieses Ortes erlegen. Ein wohliges Gefühl durchströmt meinen Körper – ich will jetzt nicht sagen, dass ich mich wie neugeboren fühle, aber auf jeden Fall ausgeschlafen und topfit. Den zu erwartenden Sonnenbrand nehme ich dafür gerne in Kauf.
DSCF6645In epischer Breite würde ich jetzt gerne darlegen, was ich den Rest des Tages noch alles gemacht habe, aber ich verweise hierzu auf meine anfänglich Anspielung auf Rosamunde Pilcher, denn dort wird ebenfalls in epischer Breit erzählt, dass im Grunde nichts passiert ist. Genauso verhält es sich bei mir am heutigen Tag. Ich gehe zurück zur Herberge, biege kurz vorher links ab und steige die Treppe zum Hafen hinab, betrete Timosus Bar, weil ich eigentlich gerne etwas essen möchte, beschließe unmittelbar beim Betreten der Lokalität, das auch definitiv tun zu wollen, aber nicht hier, setze mich – um die Situation für alle Beteiligten weniger peinlich zu gestalten – an einen der Tische (wobei alle Tische leer sind, bis auf einen einzigen, an dem die Frau und die Tochter des Besitzers vor einem Laptop sitzen und einen Haufen Klamotten im Onlineshop von Decathlon bestellen) und bestelle eine Cola, die ich auch prompt mit einem Glas (inklusive Eiswürfel und Zitronenscheibe) geliefert bekomme.
Nachdem ich das Glas in einem angemessen langen Zeitraum geleert habe (zu schnell hätte nach Flucht ausgesehen und das will ich vermeiden), steige ich die Treppe wieder hinauf, überquere die Straße, betrete und durchschreite die Herberge, nehme im Garten meine Wäsche von der Leine und verstaue diese in meinem Rucksack, verlasse die Herberge wieder, indem ich diesmal nicht geradeaus zum Hafen sondern nach links gehe, betrete drei Häuser weiter ein Restaurant und lasse mich dort zum Abendessen nieder. Anmerkung: Sollte hier der Eindruck entstehen, dass sich die gesamte erzählte Geschichte auf einer geografisch kleinen Fläche abspielt, so ist dies absolut erwünscht, weil der Realität entsprechend.
Ich bestelle das Pilgermenü für zehn Euro und bekomme dafür im ersten Gang eine vorzügliche Fischsuppe, die ich peinlicherweise halb auf dem Tisch verteile beim Versuch die Schalentiere zu öffnen. Werde das vor meiner nächsten dementsprechenden Bestellung ausgiebig üben.
Im zweiten Gang bekomme ich drei kleine Fische auf dem Grill gegart und mir auf einer Schiefertafel kredenzt, deren Name mir gerade entfallen ist. Ich weiß nur, dass ich das bisher noch nie gegessen habe, aber als „Lafer!Lichter!Lecker!“-Fan weiß ich natürlich sofort, was zu tun ist. Um drei Gänge (den Nachtisch habe ich verschwiegen) und eine Flasche Rotwein reicher wanke ich zurück zur Herberge und falle leicht angebrütet in eine gnädige Ohnmacht.
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 13: Von Negreira nach Olveiroa

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Kurz nach Tagesanbruch passiere ich diesen See. Eine wunderbare Kulisse für meinen heutigen Weg!

Ich verfalle merklich in alte Muster: Der Wecker klingelt um 05:30 Uhr, eine Stunde später laufe ich los. Es ist stockduster, ich kann die Pfeile kaum sehen. Als der Weg in den Wald führt, muss ich eine erste Zwangspause einlegen.

Jedes Jahr aus Neue lache ich mich kaputt über die Leute, die im Camping Village der Nature One mitten in der Nacht ihr Zelt im Schein einer Taschenlampen-App aufbauen. Jetzt bin ich derjenige, der durch den Wald rennt und versucht mit seinem Handy einen Lichtkegel zu erzeugen, der groß genug ist um auch nur im Ansatz irgendetwas zu erkennen. Die erste Stunde ist so echt mühsam, dann wird es langsam hell und je weiter die Dämmerung fortschreitet, desto mehr kann ich sehen. Dann komme ich auch langsam in Gang und von da an läuft es flüssig durch.

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Ja, ich gebe es zu: Auch ich habe mal eine Pause gemacht. Keine Ahnung mehr, wie diese Brücke heißt, aber es fand sich ein passierender Pilger um diesen raren Moment festzuhalten.

Ohne dass ich großartig hetze oder mich beeile, fliegen die Weiler nur so an mir vorbei und ehe ich mich versehe, liegt links von mir auch schon die Albergue von Vilaserio – an sich nichts besonders erwähnenswertes, diese Herberge markiert lediglich die erfolgreiche Absolvierung des ersten Drittels der heutigen 33,2 Kilometer langen Wegstrecke. Als ich dann etwas mehr als eine Stunde später auch Santa Marina durchquere und die Landstraße AC-403 kreuze, ändert sich das Bild drastisch. Von jetzt auf gleich verabschiede ich mich aus der Zivilisation und laufe die Berge rauf und wieder runter. Bin ich bis hierher regelmäßig anderen Pilgern begegnet, ist damit nun Schluss und ich befinde mich alleine auf weiter Flur. Die Natur ist beeindruckend und lässt sich kaum in Worte fassen, daher beginne ich penibel jeden Quadratzentimeter fotografisch festzuhalten.

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Nach vielen Kilometern in der absoluten Einöde heißt es: Willkommen in der Zivilisation!

Dann erreiche ich wieder die Zivilisation und passiere Ponte Olveira. „Zivilisation“ ist hier bitte relativ zu verstehen, Ponte Olveira besteht aus dreißig Einwohnern und zwei Herbergen mit insgesamt dreißig Betten. Dieser Ort geht fließend in Olveiroa über, mit 110 Einwohnern und 95 Pilgerbetten fast schon eine Metropole. Im Prinzip kann ich damit an den heutigen Tag einen Haken machen, aber als ich auf die am morgigen Tag anstehende Etappe schaue, die mit 31,5 Kilometern angegeben ist, fasse ich einen folgenschweren Entschluss: Nachdem es gerade so gut läuft und es gerade einmal zwei Uhr ist, schaffe ich es locker noch zur nächsten Herberge, die im vier Kilometer entfernten Logoso liegt. Ohne jetzt zu viele Worte zu verlieren: In Logoso beschließe ich dann, bis Hospital weiterzulaufen, das ist die nächste, weitere zwei Kilometer hinter Logoso liegende Herberge.

Dass dieses sehr idyllisch zwischen der häßlichen Eisenfabrik von Dumbria und der Hauptverkehrsstraße gelegen ist, ist zwar für den Gesamteindruck nicht gerade förderlich, interessiert mich aber nicht, denn langsam aber sicher machen sich meine Füße bemerkbar, die ich jetzt gerne hochlegen und schonen möchte.

Ich betrete also dieses Gebäude und das Unheil nimmt seinen Lauf: Zunächst einmal ist es unfassbar laut, denn es befinden sich mehr Leute in dieser Bar als eigentlich hineinpassen. Es sind aber keine Pilger oder sonstige Übernachtungsgäste, sondern Gäste der Betreiber, die gerade eine Party feiern. Als ich einige Minuten an der Bar gestanden habe, kommt ein alter Mann auf mich zu und schaut mich fragend an. Ich frage ihn mit den wenigen Brocken Spanisch, die ich mittlerweile erlernt habe, ob es noch ein freies Bett gibt, er sagt „Si!“, dreht sich um und ward nicht mehr gesehen. Einige Minuten später kommt eine ältere Frau auf mich zu, ich frage sie, ob sie Englisch spricht. Sie sagt: „Yes, of course! My English is perfect, I give English classes“. Als ich sie bitte, für mich in der staatlichen Herberge von Dumbria anzurufen und nachzufragen, ob es dort noch ein freies Bett gibt, versteht sie plötzlich kein Wort mehr und sagt ständig nur noch „Acqui!“, also „Hier!“. Leider hat das ganze ein Mann mitbekommen, der neben mir steht und der blöderweise auch noch fließend Englisch und Spanisch spricht, was ihr sichtlich unangenehm ist. Er teilt mir nach längerem Hin und Her mit, dass sie dort nicht anrufen wolle, weil in Dumbria heute ein Fest stattfinde und die Herbergen deswegen wahrscheinlich schon voll seien.

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Während der ganzen Zeit, die ich an diesem unbehaglichen Ort, der Albergue O Casteliño, verbringe, habe ich vor meinem geistigen Auge den Weg, der mir zuzurufen scheint: „Geh weg von diesem Ort, komm zu mir“. Ich höre auf den Weg.

Ich schaue ihn fassungslos an, denn auf genau diesem Kenntnisstand war ich bereits vor vielen Minuten. Zwar ist die Information das Fest betreffend neu, aber dass die Herberge möglicherweise belegt sein könnte, hatte ich aufgrund der fortgeschrittenen Zeit vermutet. Ihr verständlich zu machen, dass das ja genau das Detail sei, wegen dem ich sie gebeten hatte dort anzurufen (was sie auch noch entschieden ablehnt, als ich ihr Geld für das Telefonat anbiete), erspare ich uns beiden. Stattdessen schultere ich erneut meinen Rucksack und laufe los, denn bis wir das Ganze ausdiskutiert haben, bin ich schon lange bei der nächsten Herberge im knapp fünf Kilometer entfernten Dumbria angekommen. Zu der Herberge, die ich gerade hinter mir lasse, sollte ich noch zwei Dinge erwähnen: Für ihre Gäste haben die Besitzer in einem Nebenraum ein reichhaltiges Buffet aufgebaut, für mich wird es aber nichts warmes zu essen geben, da – wie sie mir später noch mitteilt – die Küche heute den ganzen Tag wegen des Festes in Dumbria geschlossen ist (Die Frage nach dem Zusammenhang klemme ich mir mal). Mein Bett für die Nacht wäre im gleichen Raum gewesen wie die Bar, in der sich die Party abspielt, lediglich abgetrennt durch eine Wand aus MDF-Platten, die nicht einmal bis zur Decke reicht – ich wäre also wahrscheinlich die gesamte Nacht unfreiwilliger passiver Teilnehmer der Party gewesen.

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Auch auf dem Caminho gilt es folgenschwere Entscheidungen zu treffen!

Das unbehagliche Gefühl, das mich schon bei Betreten der Albergue O Casteliño ereilt hat, spornt mich noch mehr an weiterzulaufen. Der Weg nach Dumbria führt ab diesem Punkt, an dem man sich zwischen dem Ziel Muxia oder Finisterre entscheiden muss, zwar auf Schotterwegen konstant steil bergauf, aber erstens entschädigt die Schönheit der sich eröffnenden Täler für diese Strapaze, zweitens schlafe ich lieber vor der Tür der nächsten Herberge auf dem kalten Boden (Isomatte habe ich ja keine dabei), als auch nur einen einzigen Cent hier zu lassen und drittens freue ich mich darüber, dass mit jedem zurückgelegten Meter die morgige Etappe nach Muxia kürzer wird.

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Eine Panoramaaufnahme vom Weg zwischen Olveiroa und Dumbria. Dass der Weg, den ich gerade gehe (rechts im Bild), der gleiche ist, der sich im späteren Verlauf die Berge hochkämpft (bei genauem Hinsehen links oben im Bild zu erkennen), brauche ich wohl nicht erwähnen. Vor mir liegt ein weiter Weg!

Ich bin gefühlt er zwei Kilometer gelaufen, da taucht vor mir ein markantes rot-blaues Gebäude auf – es ist die Albergue O Conco. Aus der Ferne sehe ich einen weißen Zettel in der Türe hängen und breche innerlich zusammen, denn das machen die Hospitaleros immer dann, wenn die Herbergen belegt sind. Als ich wenige Minuten später vor der Türe stehe, kann ich folgenden Text lesen: „Open from 13:00 to 22:00h. The door is open. There are free beds in the bedrooms. Choose one bed, please. We return soon. Price: 6€. Thanks.“

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Dieses Bild habe ich von der Internetseite der Herberge geklaut, man möge es mir verzeihen!

Überglücklich betrete ich das Gebäude, suche mir ein Bett und stelle mich danach für eine halbe Stunde unter die heiße Dusche – selten hat es so gut getan einen Strahl heißen Wassers auf die total verhärtete Schultermuskulatur zu bekommen. Als ich die Dusche verlasse, fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Ich ziehe saubere, trockene Sachen an, wasche meine triefend nass geschwitzten Sachen, die ich heute den ganzen Tag über anhatte, dann schlüpfe ich in meine Sandalen und ziehe los den Ort zu erkunden. Bei einem etwas größeren Weiler mit gerade einmal 480 Einwohnern ist man da schnell durch. An einer Bar, deren Türe geschlossen ist und die drinnen stockdunkel ist, halte ich kurz an, denn gerade kommt ein älterer Mann, offensichtlich der Besitzer, heraus. Da er leider kein Wort Englisch versteht, kann ich nun also endlich mit meinen exzellenten und vor Eloquenz strotzenden Spanischkenntnissen punkten: Ich zeige auf die Bar und frage: „Abierto?“. Er schaut mich an und macht eine Geste, die soviel heißt wie: „Die einen sagen so, die anderen sagen so“. Meine äußerst eloquente Frage „Agua sin gas?“ veranlasst ihn dazu hineinzugehen, die Türe des anliegenden Supermarktes aufzuschließen und das Licht anzuschalten. Dass in diesem Moment auch erst mit einem lauten Brummen die Kühlung der Vitrine anspringt, in der das Frischfleisch fachgerecht bei Zimmertemperatur gelagert ist, übersehe ich geflissentlich.

Mir fällt plötzlich wieder ein, dass heute ja Sonntag ist und deswegen der Supermarkt eigentlich geschlossen hat. Ich kaufe mir eine Flasche Aquarius, zwei Dosen Coca-Cola und gönne mir außerdem noch ein Schokoladen-Blätterteit-Gebäck.

Was es sonst noch über diesen Ort zu berichten gibt: Man ist offensichtlich überglücklich, dass eine Berühmtheit wie ich den Ort besucht, denn im Stadion gleich neben der Herberge wird mir zu Ehren ein Fußballspiel veranstaltet und auf dem Vorplatz der Kirche beginnen Leute gerade damit eine Bühne aufzubauen, auf der heute Abend zu meiner Belustigung Musik und Tanz dargeboten wird. Das wäre zwar nicht nötig gewesen, aber ich nehme es wohlwollend zu Kenntnis.

DSC_0820Während ich, gerade als ich diese Zeilen schreibe, in meiner Residenz auf dem Balkon sitze, von dem aus ich später zum Volk sprechen werde, finden auf besagter Bühne bereits Proben für heute Abend statt und ich stelle fest, dass sich das durchaus vielversprechend anhört. Ich sitze also hier und mein Blick fällt auf einen Wegstein, der die noch zu laufende Distanz mit etwas mehr als 23 Kilometern angibt. Losgelaufen bin ich heute morgen in Negreira bei Kilometer 71, somit habe ich heute 48 Kilometer auf dem Tacho stehen. Vor meinem geistigen Auge erscheint wieder die Hospitalera aus Tui, mit erhobenem Zeigefinger und mahnendem Blick höre ich, wie sie es sagt: „Stupido!“.

DSCF6590Nachdem ich einige Zeit das Fußballspiel angeschaut habe (es ist übrigens ziemlich langweilig, exzessiv den Schiedsrichter anzupöbeln und zu beleidigen, wie es sich ja für ein Kreisklassenspiel gehört, wenn dieser mich nicht versteht), wundere ich mich ja schon ein wenig über die Regelabweichungen zum deutschen Fußball: Es gibt zwar einen Schiedsrichter, aber keine Linienrichter. Im Zweifelsfall wird erst ausgiebig diskutiert und anschließend demokratisch abgestimmt, ob ein Ball nun im Aus war oder nicht.

DSC_0824Im Anschluss an das Fußballspiel habe ich leider nicht mehr viel Zeit für das Volksfest, das bereits im vollen Gange ist, lasse es mir aber dennoch nicht nehmen noch eine Viertelstunde der Tanzdarbietung beizuwohnen, bevor ich zur Herberge zurückkehre, die ich zehn Minuten vor Zelleinschluss erreiche.

Nachdem ich noch ein feudales und reichhaltiges Mahl zu mir genommen habe (trockenes Brot und stilles Wasser), falle ich auch schon ins Bett.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 12: Von Santiago de Compostela nach Negreira

Ich werde um 07:00 Uhr wach. Die Betten neben mir – leer. Es fühlt sich an, als wäre ich gerade unvermittelt aus einem wunderschönen Traum gerissen worden. Ein großes schwarzes Loch tut sich auf, ich darf aber nicht reinfallen, sondern muss nach vorne schauen. Und so quäle ich mich aus dem Bett, mache mich fertig und verlasse um Viertel nach acht das Hostel. Kaum fünf Minuten später laufe ich über den Praza do Obradoiro, den großen Platz vor der Kathedrale und biege am Parador-Hotel links ab.
DSC_0813Am Dienstboteneingang steht einsam eine junge Pilgerin – Simona aus Litauen -, die ich in den letzten Tagen desöfteren auf dem Weg gesehen habe. Aufgefallen ist sie mir aufgrund ihres markanten grünen Umhangs, den sie sich (so erzählt sie mir später) während ihrer Pilgerreise seit Lissabon eslbst genäht hat. Ich stelle mich neben sie und wir warten gemeinsam darauf, dass es 09:00 Uhr wird. Es ist nämlich so, dass das Parador eine langgehegte Tradition hat. Dazu muss man zunächst wissen, dass das Parador im Jahr 1499 von den katholischen Königen Ferdinand und Isabella als Krankenhaus für die Pilger gebaut wurde, die ihren Pilgerweg hier in Santiago beendeten. Sie bekamen hier Unterkunft, Verpflegung und (ganz wichtig) medizinische Versorgung für drei Tage. Im Jahr 1953 wurde das Gebäude geräumt um es in Wahrzeichen der Stadt zu verwandeln. Ein Jahr später wurde es wiedereröffnet als Hotel „Hostal dos Reis Catolicos“ („Die heiligen zwei katholischen Könige“).
DSC_0811Eine Tradition aber hat diese Verwandlung überlebt: Noch heute werden zu jeder Mahlzeit (Frühstück, Mittagessen und Abendesssen) des Tages zehn Pilger eingeladen, die ihren Pilgerweg nach Santiago mittels der Compostela nachweisen können. Einzige Voraussetzung: Die Compostela darf nicht älter sein als drei Tage.
Das trifft auf uns beide zu und so warten wir darauf, dass sich die Pforte öffnet und wir hereingebeten werden. In der Zwischenzeit kommen wir miteinander ins Gespräch. Sie fragt mich, in welchem Hostel ich in Negreira unterzukommen gedenke und sagt auf meine Antwort, sie werde es in einem anderen Hostel versuchen, und zwar in der staatlichen Herberge, die koste nur sechs Euro. „In Lithuania we don’t have so much money like the Germans. We only have about eleven refugees.“ Dabei grinst sie mich mit einem verschmitzten Lächeln an. Ich kann gerade nicht lachen, das ist mir heute morgen vergangen.
DiDSC_0809e Pforte öffnet sich, wir werden hereingebeten. Auf die Kontrolle der Compostela wird verzichtet, denn wir sind eh nur zu zehnt, da ist das gleich mal egal. Kreuz und quer durch die Katakomben des Gebäude, die so überhaupt nicht nach einem Fünf-Sterne-Hotel aussehen, gelangen wir in die Küche, wo drei von uns mit Tabletts und Thermoskannen beladen werden. Das Frühstück, das uns kredenzt wird, ist einfach gehalten: Es gibt Milchkaffee, kleine Croissants und Zimtschnecken, das aber in einer Menge, die locker für die doppelte Anzahl an Pilgern gereicht hätte. DSC_0810Kaum habe ich eine Zimtschnecke aufgegessen, legen mir die anderen eine weitere auf meine Serviette (Teller bekommen wir nicht, aber das ist in Ordnung, denn so hat das Personal weniger Arbeit mit uns) und strahlen mich an. Dabei sagt einer von ihnen mehrfach, ich sähe so aus, als könne ich die Kalorien gebrauchen. Stimmt wahrscheinlich auch, aber in erster Linie esse ich so viel wie möglich, weil die Backwaren einfach unverschämt lecker sind. Außerdem sind sie noch warm und dem Geruch im Küchentrakt nach zu schließen, sind sie hier frisch zubereitet worden.
Nach dem Frühstück verabschieden Simona und ich uns voneinander, denn nachdem sie es gestern zweimal nicht geschafft hat zur Messe in die Kathedrale gelassen zu werden, möchte sie es heute um 11:00 Uhr nochmal versuchen. Ich versorge sie noch mit Tipps, wo sie ihr Gepäck während der Messe unterbringen kann und über welchen Zugang sie es am Besten versuchen sollte, dann trennen wir uns und ich ziehe los.
In meinem Kopf macht sich eine vertraute Leere breit, die ich in den vergangenen Tagen nicht hatte und auch nicht vermisst habe. Stupide setze ich einen Fuß vor den anderen und folge den gelben Pfeilen. Über den Rest des Tages gibt es nichts zu berichten, denn es wird deutlich, dass diese Etappe lediglich der Distanzbewältigung dient – Es gibt absolut nichts zu sehen, außer der zugegebenermaßen schönen Landschaft. Das bestätigt auch mein Wanderführer, der sich ungewohnt wortkarg zeigt.
DSC_0817Zu meiner Unterkunft für diese Nacht (Albergue El Carmen) kann ich sagen: Der Name ist das schönste daran. Vielleicht sogar das einzig schöne. Vor allem das Personal strahlt eine unangenehme Mischung aus Unfreindlichkeit und Inkompetenz aus, was ich vor allem dann erfahren darf, als ich es wage, die Waschmaschine benutzen zu wollen. Hätte ich vorher gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich gleich zur Kernseife gegriffen und meine Wäsche per Hand gewaschen. So verbringe ich eine halbe Stunde damit zuzuschauen, wie zwei gestandene Machos Männer daran scheitern, die Maschine in Gang zu bringen, nur um anschließend die Frau des Hauses zu rufen, die sich dann darum kümmern muss.

Zu meiner Überraschung treffe ich, als ich in den Aufenthaltsraum zurückkehre, Simona. Zwar wollte sie in eine andere Herberge, wie sie mir ja schon in Santiago erzählt hatte, diese hat jedoch geschlossen. Auch gut, so haben wir noch ausgiebig Zeit uns miteinander zu unterhalten.

Abends kaufe ich mir im einzigen Supermarkt von Negreira etwas zu essen und verbringe den Abend damit, die vergangenen Tage schriftlich aufzuarbeiten und in den schönen Erinnerungen zu schwelgen.
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 11: Ein Tag in Santiago de Compostela

DSC_0794Heute gibt es den allerersten wirklichen Langschläfertag der gesamten Reise, denn dadurch, dass wir nicht zum nächsten Ort laufen, sondern im Last Stamp noch eine weitere Nacht bleiben, müssen wir nicht in aller Herrgottsfrühe auschecken. Also greift Plan B: ausschlafen.
Irgendwas mache ich aber trotzdem falsch, denn schon um kurz nach acht bin ich topfit und frisch geduscht – aber nicht aus einem Zwang heraus, sondern einfach weil es sich richtig anfühlt. Die Mädels schlafen noch tief und fest, weshalb ich beschließe in der kleinen Bar direkt gegenüber der Herberge zu frühstücken – kann ich machen, schließlich bin ich ja im Urlaub.

Unser erster und einziger Pflichttermin des Tages ist die Pilgermesse um 12:00 Uhr, denn wir wollen auf jeden Fall den Botafumeiro in Aktion sehen.

 

 

 


Exkurs: Botafumeiro

DSC_0791Eigentlich ist ein Botafumeiro recht unspektakulär, ist es doch nicht mehr als das galizische Wort für einen Weihrauchkessel. Aber es ist DER Weihrauchkessel: In der Kathedrale von Santiago de Compostela hängt ein Exemplar, das 1,60 Meter hoch ist und ungefüllt etwa 54 Kilogramm Gewicht auf die Waage bringt. In Bewegung gesetzt wird es mittels eines Seils, dessen Länge zwischen 30 und 66 Metern angegeben wird, durch die acht sogenannten Tiraboleiros. Diese bringen den Weihrauchkessel auf eine Geschwindigkeit von über sechzig Stundenkilometern, am tiefsten Punkt berührt er fast den Boden. In der Geschichte kam es zu mindestens vier dokumentierten Zwischenfällen: 1499 soll der Botafumeiro im Beisein von Katharina von Aragon das Fenster des Südportals durchschlagen und auf der Plaza de las Platerías aufgeschlagen sein. Weitere ähnliche Ereignisse soll es 1622, 1925 und 1937 gegeben haben. Da stellt sich doch wirklich die Frage, warum ein solch großer Kessel zum Einsatz kommen muss. Ganz einfach: Bis 1786 speisten und nächtigten die Pilger auch in der Kathedrale und Hygiene wurde damals nicht so groß geschrieben wie heute – der Botafumeiro wurde gebraucht um mit dem Weihrauch einen angenehmen Geruch in der Kathedrale zu verströmen.

(Vor Beginn der Pilgermesse wird in allen erdenklichen Sprachen darauf hingewiesen, dass Bild- und Tonaufnahmen der Botafumeiro-Zeremonie streng untersagt sind. Nun ja, daran gehalten habe ich mich nicht. Übrigens auch sonst kaum jemand. Leider ist die Qualität meiner Videoaufnahme nicht vorzeigbar, daher verweise ich an dieser Stelle auf Youtube.)

 


 

DSC_0792Da die Kosten für den Einsatz des Botafumeiro mit 300 Euro (Kohle, Weihrauch, Lohnkosten für die Tiraboleiros, Seilverschleiß) ziemlich hoch sind, gibt es das Spektakel nur freitags um 19:30 Uhr zu sehen, im Heiligen Jahr aber während jeder Pilgermesse. Das nächste Heilige Jahr findet zwar erst wieder 2021 statt, aber in diesem Jahr hat Papst Franziskus das Jahr der Barmherzigkeit proklamiert und da gelten die gleichen Regeln. Gut für uns, denn so bekommen wir eine Vorstellung des Botafumeiro geboten und können die Kathedrale durch die geöffnete Heilige Pforte betreten.
Also gönnen wir uns das volle Programm: Zusätzlich zu den genannten Punkten umarmen wir noch die Jakobsstatue und besuchen das Grab des Heiligen Jakobus. Nach einer anschließenden ausführlichen Besichtigung der Kathedrale verbringen wir den Rest des Tages damit, jeden – aber auch wirklich jeden – Souvenirladen der Stadt aufzusuchen. Zwischenzeitlich treffen wir uns noch mit Rocio, einer jungen Dame aus Sevilla, die wir bereits am ersten Abend im Kloster getroffen haben. Sie war gemeinsam mit ihrem Vater unterwegs, musste aber verletzungsbedingt aufgeben und ich bereits vor einigen Tagen mit dem Bus nach Santiago de Compostela gefahren. Wir gehen mit ihr etwas essen und trinken, dann setzen wir unsere Shoppingtour fort.
DSC_0797Dabei kommen wir auch zu einem sehr schönen kleinen Laden mit dem Namen „The Pilgrim“, der eigentlich alles hat, was ich an Souvenirs mitnehmen möchte. Allerdings kaufe ich diese nicht hier und heute, denn dann müsste ich sie ja bis nach Finisterre schleppen. Stattdessen mache ich ein Foto von der Fassade des Ladens um diesen in einigen Tagen wiederfinden zu können.
Abends treffen wir uns mit unseren Italienerinnen um ein letztes Mal zusammen zu essen, bevor es dann zwangsläufig heißt Abschied zu nehmen. Um drei Uhr in der Nacht werden Sylvia und Dorian sich auf den Weg zum Flughafen machen, die Italienerinnen fahren mit Sarah zusammen mit dem Bus nach Finisterre, während ich mich zu Fuß auf den Weg dorthin mache. Wir beschließen den Abend zu einer für meine Verhältnisse unverschämt späten Uhrzeit um 01:00 Uhr in der Früh, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass dieser Tag und unsere gemeinsame Zeit niemals zu Ende gehen würde. Dennoch muss ich auch heute wieder schreiben (und das ist mir nie so schwer gefallen):
Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 10: Von Padrón nach Santiago de Compostela

DSCF6497Heute steht die letzte Etappe unserer gemeinsamen Reise an und Vorfreude mischt sich mit Wehmut. Wir beschließen, den Weg des heutigen Tages gemeinsam zu gehen und ich kann sagen: Keine der vorangangenen Etappen hat so viel Spaß gemacht wie die heutige. Das mag aber wohl auch an mir selbst liegen, denn nachdem ich etwa 245 (in Worten: zweihundertfünfundvierzig) Kilometer auf dem Jakobsweg von Markierungsstein zu Markierungsstein gelaufen bin, stelle ich fünfzehn Kilometer vor Santiago fest, dass darauf jedes Mal auch eine Zahl eingraviert ist, die erstaunlicherweise immer kleiner und kleiner wird. Meine Frage an die anderen, ob damit die Kilometer zur Kathedrale von Santiago heruntergezählt werden, wird von den anderen mit laut schallendem Gelächter beantwortet – das heißt dann wohl soviel wie „ja“.

Mannomann, was bin ich aber auch wieder ein Schnellmerker. Die Steine stehen ja auch nur im Abstand von wenigen hundert Metern, da kann man so ein Detail ja wohl mal übersehen., Jedenfalls zaubert jeder der von nun an folgenden Steine ein dezentes Grinsen in die Gesichter meiner Mädels.

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Kann mir mal bitte jemand erklären, wie DAS gehen soll?

Nach hinten raus zieht sich der Weg ungemein, vor allem, nachdem wir die ersten Häuser erreicht haben, die das Stadtzentrum von Santiago ankündigen, wir aber noch kreuz und quer durch die Gassen geschickt werden. Dann ist es plötzlich so weit: Wir können die Turmspitzen der Kathedrale sehen und wenig später stehen wir auch schon auf dem Praza do Obradoiro, dem Vorplatz.

Instinktiv steuern wir alle die gleiche Stelle an, lassen unsere Rucksäcke und unsere Körper auf den Boden fallen und genießen die Atmosphäre:

Immer mehr Pilger strömen auf den Platz und machen Fotos von sich vor der Kathedrale, Eine Gruppe von Pfadfindern ist sogar noch fit genug, die Rucksäcke über die Köpfe zu heben und so für ein Foto zu posieren.

Kurz überlege ich, das Gleiche zu tun, lache mich dann selbst aus und bleibe erschöpft liegen. Die Gruppe Radfahrer, die ihre Drahtesel über den Köpfen in die Luft recken, ist auch beeindruckend. Nach etwa einer halben Stunde machen wir uns auf den Weg zum naheliegenden Pilgerbüro, wo wir uns für die folgenden zwei Stunden in die Schlange all derer einreihen, die wie wir ihre Compostela abholen wollen.

DSCF6507Als ich dann endlich als erster von unserer Gruppe an den Schalter mit der Nummer 1 gerufen werde (insgesamt sind heute vierzehn Schalter besetzt), treffe ich auf einer sehr nette und hochmotivierte Dame, die mich alles mögliche fragt, während ich das mir vorgelegte Formular ausfülle und sie meine Compostela schreibt. Dabei geht sie äußerst gewissenhaft vor: Das Dokument ist natürlich ein Vordruck, denn auch wenn die Compostela früher für jeden Pilger quasi frisch hergestellt wurde, wäre das heutzutage bei der Masse an Pilgern (letztes Jahr waren es knapp 250.000 registrierte Pilger) natürlich nicht mehr möglich. So wird nur noch der Name und das Datum der Ankunft in Santiago eingetragen. Auf meiner Compostela wird letztlich nur mein erster Vorname stehen, hauptsächlich aus Zeitgründen, dafür malt sie diesen aber mit Hingabe auf das Dokument. Nach einer netten und durchaus angenehmen Unterhaltung halte ich endlich das heißersehnte Dokument in den Händen, das die entscheidenden Worte enthält:

 

DSC_0770„Capitulum huius Almae Apostolicae et Metropolitanae Ecclesiae Compostellanae, sigilli Altaris Beati Iacobi Apostoli custos, ut omnibus Fidelibus et Peregrinis ex toto terrarum Orbe, devotionis affectu vel voti causa, ad limina SANCTI IACOBI, Apostoli Nostri, Hispaniarum Patroni et Tutelaris convenientibus, authenticas visitationis litteras expediat, omnibus et singulis praesentes inspecturis, notum facit: Dominum Romanum Wegmann hoc sacratissimum temptum, perfecto Itinere sive pedibus sive equitando post postrema centum milia metrorum, birota vero post ducenta, pietatis causa, devote visitasse. In quorum fidem praesentes litteras, sigillo eiusdem Sanctae Ecclesiae munitas ei confert.

Datum Compostellae die 25 mensis augusti anno Domini 2016“

Auf deutsch heißt das so viel wie:

DSC_0767Das Kapitel dieser segenspendenden Apostel- und Metropolitankirche von Compostela, Hüter des Siegels des Altares des seligen Apostels Jakobus, macht entsprechend seiner Absicht, allen Gläubigen und Pilgern, die aus der ganzen Welt aus frommer Neigung oder zur Erfüllung eines Gelübdes an der Schwelle unseres Apostels, des Patrons und Schutzherren der spanischen Lande, des heiligen Jakobus, zusammenkommen, eine gültige Urkunde zur Bestätigung ihres Besuches auszustellen, hiermit allen und jeden, die in die vorliegende Urkunde Einblick nehmen werden, bekannt, dass Herr Roman Wegmann dieses hochehrwürdige Gotteshaus aus Frömmigkeit ehrerbietig besucht hat. Zur Beglaubigung dessen überreiche ich ihm diese vorliegende Urkunde, versehen mit dem Siegel der genannten heiligen Kirche.
Ausgestellt in Compostela den 25. Tag des Monats August im zweitausendsechzehnten Jahr des Herrn“

Mit diesem Dokument in den Händen verlasse ich das Büro und treffe draußen auf meine Mädels, die allesamt (obwohl sie erst nach mir aufgerufen wurden) schon seit längerem fertig sind.

Den Rest des Tages erkunden wir das Stadtzentrum, direkt nachdem wir im Hotel The Last Stamp eingecheckt und uns unseres Gepäcks entledigt haben. Das, was ich jetzt hier im Nachhinein so locker herunterschreibe, hat uns in dem Moment mehr Adrenalinschübe verschafft als uns lieb war. Unsere italienisch-portugiesische Fraktion meldet sich zuerst an und wird gleich mit einer Hiobsbotschaft konfrontiert: Trotz der bei der Reservierung getätigten Zusage, dass sie auch am Tag der Ankunft noch von einer Nacht auf zwei Nächte verlängern können, ist das Hostel für die nächsten Tage komplett ausgebucht, eine Verlängerung um eine weiter Nacht somit doch nicht möglich. Sie müssen sich also für die zweite Nacht um eine andere Unterkunft bemühen.

Sylvia hat dankenswerterweise für uns drei bereits für zwei Nächte reserviert, ich habe dafür meine Kreditkartennummer beigesteuert. Um es kurz zu machen: Unsere Reservierung ist nicht auffindbar, zumindest so lange nicht, bis die junge Dame hinter dem Tresen auf die großartige Idee kommt, statt nach dem Namen die Kreditkartennummer zu suchen. Siehe da: Treffer. Geht doch! Nun möchte sie von jedem von uns zwanzig Euro haben, was dem Preis für eine Übernachtung entspricht. Als wir sie darauf hinweisen, dass wir bereits für zwei Nächte reserviert hatten, verneint sie dies zunächst, geht dann noch mal ihre Reservierungen (auf losen Zetteln!) durch, blättert nervös durch ein dickes Buch und stellt dann fest, dass wir recht haben. Sie ist wohl nicht der hellste Stern am Himmel und überdies auch noch total überfordert. Kann uns aber egal sein, denn wir haben ja nun endlich unsere Betten sicher.

Abends, nach der ausgiebigen Stadterkundung, gehen wir in einem kleinen netten Lokal noch etwas essen. Auf dem Praza do Obradoiro pulsiert das Leben und eine Menschenmenge feiert das Leben zur Musik einer Musikgruppe, die die Mauern des ehrwürdigen Pazo de Raxoi zum Beben bringen. Während die Mädels ausgelassen tanzen, genieße ich im stillen die Atmosphäre – nach Tanzen und ungelassenem Feiern ist mir heute nicht, zu sehr belastet mich das, was mich morgen erwarten wird. Irgendwann kehren wir dann in die Albergue zurück und fallen halbtot in die Betten.

DSCF6509Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 9: Von Tivo nach Padrón

Mein erster Wecker klingelt um 07:00 Uhr. Der zweite um 07:15 Uhr, der dritte schließlich um 07:30 Uhr. Es ist mir egal. Ich werde um 07:55 Uhr wach, aber nicht etwa aufgrund eines vierten Weckers, sondern durch das geschäftige Treiben der fünf Damen in unserem Zimmer. Jeden Tag noch etwas später dran zu sein ist etas, das ich gerade sehr genieße, trägt es doch zu einer gewissen Grundgelassenheit und inneren Ruhe bei, die ich in meinem Leben so nicht gewohnt bin. Ich nehme also meine Wäsche von der Wäscheleine, wanke ins Bad, mache mich fertig und bin auch schon kurz darauf startklar.

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Pilgerkunst am Wegesrand: Ein mit viel Liebe verzierter Wegpfeil, der mir unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Wir schaffen immerhin zwei Kilometer, da lockt eine Bäckerei aun der Straßenecke mit einem unheimlich anziehenden Duft. Der ersten Versuchung (die beiden berühmten Thermalhotels von Caldas de Reis mit ihrer schier endlosen Auswahl an Massagen und sonstigen Anwendungen) kann ich noch widerstehen, aber das hier ist zu viel für mich. Wir gehen hinein, suchen uns etwas aus dem reichhaltigen Angebot aus und suchen anschließend draußen einen Platz. Das Frühstück der vergangenen Tage bestand meistens (wenn es nicht zufällig gerade ausgefallen ist wegen „keine Lust“ oder mangels Gelegenheit) aus einem Café con leche mit einem Croissant, heute gibt es dekadenterweise noch ein Glas frisch gepressten Orangensaft dazu. In jedem noch so kleinen Café hier in Spanien und Portugal steht üblicherweise einer dieser riesigen Automaten, in die ganze Orangen eingefüllt und diesem anschließend vollautomatisch halbiert und gepresst werden. Wäre das Gerät nicht so unfassbar groß bezüglich seiner Abmessungen und so unfassbar aufwändig bezüglich seiner Reinigung – ich hätte bestimmt schon längst eines davon in meiner Küche stehen. Da das aber nie passieren wird, nehme ich hier auf meiner Reise jede Gelegenheit wahr einen frisch gepressten Orangensaft zu mir zu nehmen. So auch hier in diesem Straßencafé, womit der Tag schon einmal sehr gut beginnt. Wobei er aber auch schon recht weit fortgeschritten ist, denn als wir dann nach dem Frühstück wirklich losgehen, ist es schon 09:30 Uhr.

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Noch mehr Pilgerkunst am Wegesrand.

Als ich mir den Streckenplan zur heutigen Etappe anschauen, stelle ich fest, dass etwa auf halber Strecke die Herberge von Valg liegt, und zwar im kleinen Weiler O Pino, aber diese Information ist eigentlich unnütz, denn die Weiler sind im Allgemeinen so klein, dass man sie eh nicht wahrnimmt. Daher hoffe ich, dass zumindest die Herberge ausgeschildert ist, denn dort möchte ich ein Foto der Pilgerskulptur machen, die in meinem Reiseführer abgebildet ist. Diese Bild habe ich im Vorfeld auch meinen Begleiterinnen gezeigt und auch sie sind fest entschlossen, dort vorbeizuschauen. So trennen sich also unsere Wege noch in Caldas de Reis, in der Gewissheit, dass wir uns nicht wie üblich erst am Zielort wieder treffen, sondern möglicherweise bereits in O Pino.

Etwa in der Höhe von O Cruceiro fängt es an zu regnen. Ich ahne nichts Gutes und verpacke erst meinen Rucksack und dann mich so gut es geht regenfest und dann dann geht es auch schon los: ein richtig schöner und heftiger Regen, wie man ihn beim Wandern echt gut brauchen kann. Aber es hilft ja nichts: Pilgern ist nun mal kein Strandurlaub in einer 5-Sterne-Ferienanlage, also muss ich da jetzt wohl durch.

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Ohne Worte…

Die Herberge von Valga ist der erste Ort, an dem ich Zuflucht vor der widrigen Witterung finde, zumindest unter dem Vordach, denn die Herberge selbst öffnet erst in einer Stunde, aber das kenne ich ja schon. Auch das unfreundliche Reinigungspersonal, das zwar die Herberge reinigt, mir aber einen Unterschlupf im Warmen (und sei es auch nur im Eingangsbereich hinter der Haustür auf dem Fußboden) verwehrt, ist mir schon geläufig. Ich nehme also auf dem Fußboden vor der Türe Platz und ziehe meine Schuhe aus um meinen Füßen ein wenig Erholung zu gönnen.

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… ebenfalls ohne Worte…

Nach einer halben Stunde treffen meine italienischen Mädels ein, denen ich von meinem Plan erzählt hatte hier einen Zwischenstopp einzulegen. Sie setzen sich zu mir unter das Vordach und wir warten gemeinsam auf besseres Wetter und auf Dorian und Sylvia. Ich hatte gehofft sie hier ebenfalls für ein gemeinsames Foto zu treffen, doch irgendwann gebe ich die Hoffnung auf. Entweder sie haben die Abzweigung nicht gefunden oder sie haben sich gegen den kleinen Umweg entschieden. Wie auch immer: Trotz einer Wartezeit von etwa neunzig Minuten tauchen sie nicht auf. Als der Regen aufhört, nutzen wir die Gelegenheit für eine kleine Fotosession an und mit der Skulptur, holen uns in der Herberge, die mittlerweile dann auch geöffnet hat, den obligatorischen Stempel ab und dann geht die Reise auch schon wieder los, es sind nur noch knappe zehn Kilometer bis Padrón zu bewältigen.

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Ein typischer Friedhof in Spanien.

Landschaftlich gibt es nichts Neues zu berichten, wie schon in den letzten Tagen wechseln sich Asphaltstrecken durch Weiler mit Sand- und Kieswegen durch Wald und Weinberge ab. Als ich kurz hinter der Herberge von Pontecesures die Flussbiegung des Rio Ulla erblicke, weiß ich, dass der Abzweig zum Kloster Herbon nicht mehr weit ist und ich befasse mich mit der Frage, ob ich dort vorbeischauen soll. Einerseits ist es schön anzuschauen, zumal der Himmel sich mittlerweile aufgeklart hat, und geschichtsträchtig ist der Ort auch, andererseits bedeutet das einfach mal einen Umweg von sieben Kilometer, woraufhin sich meine Füße und Beine entrüstet zu Wort melden. Wahrscheinlich haben sie bereits mitbekommen, dass ich sowieso nicht in dem Kloster übernachten würde, da Dorian mich dankenswerterweise bereits in der Albergue Corredoiras eingebucht hat.

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Das Bild habe ich von der Homepage der Albergue geklaut. Schaut doch bei Gelegenheit mal dort vorbei – auf der Homepage oder noch besser: In der Albergue. Es lohnt sich!

Als ich nach einer mental ziemlich harten Schlussetappe (der Weg hat sich hinten raus ziemlich gezogen), endlich dort ankomme, sind Dorian und Sylvia schon da, was mir der Hospitalero grinsend mitteilt. Also sind sie wirklich nicht nach Valga abgebogen, sondern gleich durchgelaufen. Wie jeden Abend freue ich mich unglaublich sie zu sehen.

Die Herberge gleicht einem Hotel: Es ist stylisch, sehr gut ausgestattet (Küche mit Geschirr, es gibt Wasserkocher und Kaffee, Tee und Kakao gratis), jeder hat einen eigenen abschließbaren Spind, mit eingebauter Steckdose und einen Vorhang vor dem Bett. Als ich mich testweise reinlege und den Vorhang zuziehe, fühle ich mich einen Moment lang wie in einer Schiffskoje.

Als wir komplett sind, ziehen wir los die Lokale des Ortes zu erkunden. Ein kleines Restaurant an der Rúa Castelao reizt uns aus einem ganz bestimmten Grund und wir betreten es zusammen mit unseren Italienerinnen. Warum? Ganz einfach: Als ersten Gang gibt es im Pilgermenü Spaghetti Bolognese – Die müssen wir einfach bestellen, alleine schon um unsere Mitreisende aus Bologna ein wenig aus der Reserve zu locken. Es folgt eine Essensschlacht vom Feinsten und wir kehren irgendwann pappsatt in die Albergue zurück.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 8: Von Pontevedra nach Tivo

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So sind mir meine Schuhe mittlerweile am liebsten: Weit weg von meinen Füßen. Ansonsten ist dies wieder ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich als Erster eingetroffen bin.

Ausschlafen – langsam gewöhne ich mich daran. Wir sind die letzten im Schlafsaal, das ist aber auch in Ordnung, denn so muss ich im Waschraum nicht anstehen. Diese Gelassenheit am Morgen hatte ich in den ersten Tagen nicht, da bin ich ja immer schon um 06:00 Uhr losgegangen und habe die Strecke runtergespult. Zum Auspowern war das perfekt, mit jedem Schritt habe ich das, was mich belastet, in den Asphalt (oder sonstigen Weg) prügeln können. Jetzt zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu schöpfen ist für mich ein sehr wichtiger Teil des Caminhos.
Wenn da doch bloß diese temporäre anatomische Anomalie nicht wäre: Ich schaue an mir herunter und sehe, dass mein linker Fuß die Dimension eines Elefantenfußes erreicht hat, so stark ist mein Knöchel mittlerweile angeschwollen. Aber: Alles Klagen hilft nicht, ich muss weiter. Ich ziehe meine Wollstrümpfe an, schnüre die Schuhe und mache eine hilfreiche Entdeckung: Ich kann den Schuh so schnüren, dass er auf den Spann drückt, somit spüre ich den schmerzenden Knöchel nicht mehr. Gesund ist das bestimmt nicht, aber zur Zeit die einzige Möglichkeit, die ich habe, denn Aufgeben kommt nicht in Frage, erst recht nicht so kurz vor dem Ziel.
Und dann geht es auch schon los: Den Anfang des Weges kenne ich schon von gestern, denn er führt mitten durch die Altstadt, zumindest so lange, bis ich auf der Ponte do Burgo den Rio Lerez quere. Die Strecke führt mich über Stock und Stein (und natürlich den obligatorischen Asphalt) durch mehrere Weiler am achtzig Hektar großen Feuchtgebiet Marismas bzw. Xunquieira da Alba entlang, inzwischen laufe ich wieder über die mir schon sehr vertraute Via Romana XIX. Die nächste Zeit passiert nichts besonderes, die Abwechslung von Einöde mit absoluter Einöde bin ich mittlerweile ja gewohnt.

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Die Igrexa de San Mamede. Weder das Internet noch der Wanderführer haben auch nur ein Wort über dieses schöne Bauwerk zu sagen. Die einzige Erwähnung ist die, dass die Herberge von Barro links hinter der Kirche liegt. Die Kirche finde ich natürlich sofort, bei der Herberge ist das schon deutlich schwerer.

An einer Weggabelung habe ich die Wahl dem Hauptweg zu folgen oder alternativ einen kleinen Umweg an der Herberge von Barro vorbei zu gehen. Ich entscheide mich für letzteres, nicht etwa um dort unterzukommen (schließlich bin ich ja gerade erst losgelaufen), sondern um meinen obligatorischen Stempel abzuholen.

In der Herberge ist keine Menschenseele, obwohl die Tür sperrangelweit aufsteht. Ich trete ein, gehe zur Rezeption, warte eine gefühlte Ewigkeit, laufe dann das komplette Gebäude ab – nichts. Niemand da. Also kehre ich in die Rezeption zurück und setze den Stempel halt selbst in mein Credencial.
Nach einer weiteren Stunde des Laufens überquere ich die Hauptstraße N-550, an der sich der Jakobsweg bereits seit einigen Tagen entlang schlängelt, lasse das Straßenschild „Santiago de Compostela 40km“ links liegen und mache mich auf zum Parque Natural Ria Barosa, von dem alle, denen ich begegne, schon seit Tagen reden und der auch in meinem Wanderführer explizit erwähnt wird. Das unheimlich schöne Gelände erkunde ich ausgiebig und gönne mir danach ein unverschämt dekadentes Mittagsmahl, bevor ich zum Endspurt aufbreche. DSCF6419Es gibt Lammrippchen (über offenem Feuer gegart) und einen riesigen gemischten Salat und Brot und Cola und zum Schuss noch ein Zitronensorbet, das alles mit Blick auf die Wasserfälle, die zu meinen Füßen in einem kleinen Teich enden. Mittlerweile (ich bin bereits gut zweieinhalb Stunden hier) ist es recht voll, viele Pilger nutzen diese Gelegenheit für ein Bad, einige haben den Felsen zu einer Wasserrutsche umfunktioniert, vor allem die Männer führen sich auf und freuen sich wie kleine Kinder. Um überhaupt nicht erst der Versuchung zu erliegen, habe ich wohlweislich in Ponte de Lima auch meine Badehose in das Päckchen gelegt und gen Heimat geschickt, denn weiche Haut an den Füßen ist der reinste Nährboden für Blasen und die kann ich gerade überhaupt nicht gebrauchen. DSCF6422Stattdessen erklimme ich lieber die Felsen und schaue mir das Gelände an. Mich erwarten die Ruinen von über zwanzig alten Getreidemühlen, die wie eine Perlenkette an dem Fluss aufgereiht sind. Jede einzelne Ruine begutachte ich ausgiebig bevor ich sie betrete, denn ich möchte nicht riskieren, dass ich von den Felsen einer zusammengebrochenen Mühle verschüttet werde. Wahrscheinlich würde ich hier nie gefunden werden, denn der Weg hierauf ist recht beschwerlich (genauer gesagt: eigentlich überhaupt nicht vorhanden, ich klettere einfach die Felsen hoch) und wie gesagt: Die Wasserfälle für ein Bad zu nutzen ist sehr verlockend, weshalb ich (mal wieder) alleine bin auf weiter Flur. Nach etwa drei Stunden verabschiede ich mich von diesem schönen Ort und ziehe los, die letzten vier Kilometer des Weges zu bezwingen.

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Die Zentralwäscherei von Tivo – es gibt nur ein Waschprogramm, die Temperatur variiert aufgrund der Anzahl der Sonnenstunden am Waschtag.

In Tivo erwartet mich eine weitere neue Erfahrung: Als ich in der Albergue Catro Canos ankomme und frage, wo ich meine Wäsche waschen kann, zeigt die Hausherrin nach draußen auf die Straße. Dort steht ein Brunnen – einer von denen, die ich schon gefühlte tausend Mal am Wegrand habe stehen sehen. Die Aussage ist klar, also gehe ich rüber und lege los. Würden jetzt jeden Moment ein paar  Waschweiber mit Schürze und Kopftuch dazu kommen – ich würde mich nicht wundern, sondern vielmehr den neuesten Klatsch und Tratsch mit ihnen austauschen, wie sich das halt so gehört beim Waschen am Dorfbrunnen. Ist ja auch klar, dass während meiner Waschorgien meine Wegbegleiterinnen eintreffen, mich bei der Verrichtung meiner Hausarbeit sehen und sich gleich das Maul darüber zerreißen. Ich dachte immer, dass das andersherum funktioniert: Leute laufen vorbei und die Waschweiber lästern. Aber das ist halt der Caminho, hier ist vieles anders und der Caminho hat seine eigenen Gesetze.

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Exklusive Backstage-Aufnahmen aus der Pilger-Suite im Catro Canos: Unser Zimmer für eine Nacht. Es war die perfekte Konstellation: ein Sechserzimmer, das heißt: Wir sind unter uns und verbringen eine ruhige, schnarchfreie Nacht.

Das Ergebnis überzeugt mich nicht wirklich, dafür ist das Wasser deutlich zu grün gefärbt von den Algen im Becken, was mir aber reichlich egal ist, denn ich habe in den vergangenen Tagen schon mehrfach (eigentlich jeden zweiten Tag) unter Beweis gestellt, dass ich die Technik der Handwäsche beherrsche.

Habe ich bereits erwähnt, dass die Herberge mitten im Nirgendwo liegt? Das ist im Prinzip eigentlich auch nichts besonderes mehr, es kommt in derart dünn besiedeltem Gebiet eher selten vor, dass das Leben pulsiert. Aus Mangel an Alternativen nehmen wir unser Abendessen hier in der Herberge ein, wobei ich erstmals in den Genuss der legendären Pimientos de Padrón komme. Lecker! Nach dem Mahl ziehen wir um in den Garten, wo die italienisch-portugiesische Fraktion sich mittlerweile zum Essen niedergelassen hat. Wir trinken noch diverse Gläser Rotwein zusammen, irgendwann falle ich dann tot ins Bett und werde von einer barmherzigen Ohnmacht übermannt.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

Caminho Português – Tag 7: Von Cesantes nach Pontevedra

Wieder steht eine kurze Etappe auf dem Plan – dadurch, dass wir gestern statt in Redondela zu bleiben bis nach Cesantes gelaufen sind, beträgt die heute zu bewältigende Distanz gerade einmal fünfzehn Kilometer.

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Am Anfang ist der Weg noch menschenleer, so wie ich es aus den ersten Tagen gewohnt bin. Aber kaum bin ich um die Kurve gelaufen…

Wieder nur zwei Seiten Wegbeschreibung, wieder schalte ich das Gehirn aus und laufe los, allerdings nach einem kleinen Frühstück – es gibt Toast mit Marmelade und Kaffee, das ganze wird zur Verfügung gestellt in einem Frühstücksraum, der für vierzehn Leute gedacht ist, in dem aber bereits alleine zwanzig Italiener sitzen, natürlich nicht ohne dass jeder lautstark mit jedem diskutiert, aber das kenne ich ja schon von den Laufpassagen. Nachdem wir uns also tapfer ein paar Scheiben Toast, Kaffee und Kakao (der heißt in Spanien übrigens Cola Cao und bei mir dauert es wieder mal etwas länger, bis ich verstehe, dass es sich dabei um Kakao handelt) erkämpft haben, nehmen wir das Frühstück zu uns und dann geht es auch schon los.

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… fühle ich mich auch schon wie bei einer Besteigung des Mount Everest. Willkommen auf der Pilgerautobahn!

Für meine Verhältnisse ist es schon sehr spät, denn als ich die Herberge verlasse, zeigt meine Uhr irgendetwas kurz nach acht Uhr an. Fünf Stunden soll es laut Wanderführer bis nach Pontevedra dauern, da kann ich nur drüber lachen, trotz zwei leichter Bergetappen. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken, als ich auf grobem Granitpflaster ungünstig wegrutsche und mit den linken Fuß seitlich kräftig anschlage. Etwas ähnliches ist mir bereits am vierten Tag passiert, als ich von Ponte de Lima nach Tui gelaufen bin: Der strömende Regen hatte an dem Tag dafür gesorgt, dass die Felsen auf dem Weg extrem rutschig sind, was dazu geführt hat, dass ich in einem unachtsamen Moment abgerutscht bin und mir das Fußgelenk verstaucht habe. Es ist also nicht so, dass mein gepeinigter linker Fuß nicht eh schon geschwollen und farbenfroh geschmückt ist.

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Wer von Arcade kommend die Ponte Sampaio überquert, landet unweigerlich in einem kleinen Dorf namens Pontesampaio (die Begründer dieses Ortes waren ja echt mit Kreativität gesegnet) – einem schönen kleinen Örtchen mit unfassbar engen und unfassbar steilen Gassen. Wer hier wohnt, muss gut zu Fuß sein.

Dazu gesellt sich nun also auch noch ein unverschämt bösartiger, stechender Schmerz dazu, der mich den Rest der Reise begleiten wird. Passt aber irgendwie auch gut zu meinem schmerzenden rechten Zeh, den habe ich mir nämlich am zweiten Tag angeschlagen, seitdem ist er blau. Na super! Für den Rest der Etappe fahre ich die Geschwindigkeit daher deutlich herunter.

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Meist geht es auf dem Pilgerweg über Stock und Stein, hier aber eher über Stege. Willkommen im Nirgendwo!

Habe ich in den vergangenen Tagen Wald- und Feldwege nach Möglichkeit vermieden und stattdessen Asphaltstraßen gesucht, habe ich heute auf eben diesen höllische Schmerzen. Daher bin ich nicht unglücklich, als ich plötzlich an einer Kreuzung stehe, an der zwei gelbe Pfeile den Weg weisen – einer zeigt nach rechts, der andere nach links. Ich lasse die Asphaltstraße diesmal rechts liegen und schlage mich in die Büsche – und zwar sprichwörtlich: Es ist sofort totenstill und ich komme mir vor, wie in einer anderen Welt.

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Eine der vielen Möglichkeiten auf einer Alternativroute ein paar Runden Pilger-Limbo zu spielen. Challenge accepted!

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Das Tor zur Welt: Diesseits noch das absolute Nichts, dass ich die letzten Kilometer durchwandert habe, jenseits die ersten Häuser von Pontevedra.

Am Lauf des Rio Tomeza entlang laufe ich durch einen kleinen Wald und spiele auf dem Weg ein paar Runden Pilger-Limbo: Die Bäume sind teilweise so niedrig quer über den Weg gewachsen, dass mir nichts anderes übrig bleibt als darunter hindurch zu klettern. Bei der Eleganz, die ich an Tag lege, bin ich wirklich froh alleine hier zu sein. Andererseits darf ich nicht klagen, denn mit dem Gepäck auf dem Rücken ist das das perfekte Training für meinen nächsten Tough Mudder im September. Trotz meiner eingeschränkten Mobilität komme ich bereits um 11:40 Uhr in Pontevedra an. Dass die Herberge noch nicht geöffnet hat, brauche ich mittlerweile wohl nicht mehr erwähnen, auch nicht, dass ich wieder der erste bin, der seinen Rucksack vor dem Tor abstellt. Die paar Minuten bis zur Öffnung verbringe ich im nahegelegenen Café, wo ich allerdings keinen Kaffee bekomme, denn das Personal ist bei der sengenden Hitze offenbar nicht gewillt, das Gebäude zu verlassen um die draußen auf der Terrasse sitzenden Gäste zu bewirten. So stärke ich mich halt mit meinen eigenen Lebensmitteln, denn darauf hinweisen, dass ich das nicht darf, wird mich vom Personal wohl auch niemand – dafür müsste ja jemand herauskommen.

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Die einzige Verpflegungsstation auf weiter Flur – Improvisiert bis zum Umfallen (im wahrsten Sinne des Wortes, denn bei dem leichtesten Windzug hat der Vorbau schon anständig geschwankt), aber mit tollem Service – es gibt Kaffee und Gebäck, also alles, was der Pilger unterwegs braucht.

Als um zwölf Uhr das Rolltor lautstark geöffnet wird, stürme ich los – total unnötig, denn ich bin immer noch der erste an der Herberge und auch der einzige. Das Gute daran ist, dass der Boiler für die Duschen auf jeden Fall noch randvoll sein dürfte mit heißen Wasser, wovon ich mich nun auch umgehend persönlich überzeugen werde. Eine halbe Stunde später verlasse ich porenrein, tiefenentspannt und total verschrumpelt die Dusche, schnappe mir meine Schmutzwäsche und gehe zum Waschraum, die Waschmaschine ignoriere ich dabei geflissentlich. Ich finde ja, dass Duschen auf einem Festival kein Heavy Metal ist, genauso wenig passt eine Waschmaschine zum Pilgern. Die Wäsche in der einen Hand und die Kernseife in der anderen begebe ich mich zum Waschbrett. Im Nachhinein kann ich sagen: Die Wäsche ist sauber, Waschmaschine wäre allerdings deutlich schneller gewesen.

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Die Capela da Virxe Peregrina, das wichtigste Heiligtum der Stadt. Erbaut ab 1778 im Barockstil hat der Grundriss die Form einer Jakobsmuschel. Das Taufbecken ist eine riesige echte Muschel aus dem Pazifik. Eins muss man der Marketingabteilung des Jakobswegs ja lassen: Das Branding haben die in den letzten Jahrhunderten knallhart und stringent durchgezogen.

Als ich fertig bin, sind auch Sylvia und Dorain bereits eingetroffen. Nach einer kurzen Siesta, die ich nutze um die Dokumentation des gestrigen Tages nachzuholen machen wir uns auf den Weg in die Stadt. Dort sind die Straßen wie leergefegt, ist ja auch noch Siesta bis um 17:00 Uhr, was uns aber nicht davon abhält einige Sehenswürdigkeiten in der Stadt angemessen zu begutachten. Dabei treffen wir auch Sarah aus Köln, der Sylvia und Dorian vor einigen Tagen bereits begegnet sind. Gemeinsam steuern wir die beiden einzigen Läden der Stadt an, die Wanderschuhe verkaufen, denn Dorian hat seit einiger Zeit Probleme beim Laufen, da müssen dringend neue Schuhe her.

Mit Ende der Siesta erwacht die Stadt plötzlich zum Leben, der Platz vor der Capela da Virxe Peregrina ist voller Menschen, der Papagei Ravachol fast schon nicht mehr zu sehen.

Wir laufen noch einmal zur Real Basilica de Santa Maria A Maior mit ihrem beeindruckenden Hauptportal. Da waren wir zwar vor etwa einer Stunde schon einmal, aber auch Kirchen haben in Spanien Siesta und wir standen vor verschlossenen Türen. Jetzt dürfen wir rein und erklimmen sogleich den Turm, von dem man einen beeindruckenden Blick auf die ganze Stadt hat.

Nach erfolgreich absolviertem Kulturprogramm und Schuhkauf belohnen wir uns mit einem Abendessen in einem Tapas-Restaurant in der Calle Real, dem 100 Montaditos. Das Konzept kannte ich so bisher noch nicht: Von einer riesigen Karte werden alle Komponenten einzeln zusammengestellt, das ganze dann mit jeweiliger Stückzahl in ein Formular eingetragen und fertig ist die Bestellung. Die Herausforderung liegt für mich darin, dass ich alleine aus fünfunddreißig verschiedenen Sandwiches auswählen kann, daneben gibt es noch die gleiche Anzahl an Brötchen und Burgern. Die Karte ist natürlich auf Spanisch, ich verstehe daher kein Wort und bestelle im Blindflug.. Ich glaube, die anderen machen das genauso. Sylvia baut vorsorglich einen dritten Tisch an – als das Essen geliefert wird, stellt sich heraus, dass wir den auch dringend benötigen, denn jetzt biegen sich drei Tische unter den Speisen. Nach geschlagener Schlacht gehen wir pappsatt zu einer naheliegenden Cocktailbar um den Abend bei einem Kaltgetränk ausklingen zu lassen. Fünf Minuten vor Zelleinschluss erreichen wir die Herberge und passieren den grinsenden Aufpasser. Ein unfassbar schöner Tag neigt sich unweigerlich dem Ende.

Es war Abend, es wurde Morgen – ein neuer Tag!

 


 

Exkurs: Der Ravachol

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Gaaaaanz wichtig in Pontevedra: Der Besuch bei Ravachol. In Spanien wird das Karneval-Spektakel traditionell mit der Beerdigung einer Sardine beendet, in Pontevedra wird stattdessen der Loro Ravachol verbrannt. Wie es zu diesem Brauch kam? Nun, das war so: Ravachol war in der Tat ein Papagei, der in der Apotheke des Feijao Pancet lebte, und zwar gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Apotheker war ein wichtiges und hochangesehenes Mitglied der Gesellschaft und versammelte daher regelmäßig bedeutende Schriftsteller und Philosophen zu Diskussionsrunden. Ravachol beteiligte sich gerne an diesen mit Zwischenrufen wie „Wehe, wenn ich meine Rute hole“ oder „Hier wird nicht angeschrieben“, wodurch er es zu einiger Berühmtheit brachte. An Karneval im Jahr 1913 begab es sich, dass Ravachol verstarb, was von der gesamten Stadt ausgiebig und intensiv betrauert wurde. Seit 1985 wird ihm zu Gedenken das Karnevalsspektakel mit der Verbrennung des Loro Ravachol begangen.