Kategorie: Nine Million Bicycles

„Nine Million Bicycles“ ist während meiner China-Reise mit Marco Polo entstanden und live ins Netz gesetzt worden. Es gibt unzensiert (ganz im Gegenteil zu anderen Publikationen aus China) meine Eindrücke während der Fahrt wieder und mag eine Entscheidungshilfe für diejenigen sein, die darüber nachdenken, diese Reise zu buchen. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!
Während der Reise sind unzählige Bilder entstanden, einen kleinen Auszug findet Ihr unter „photos.“

10. Tag, So, 23.05.2010

YANGZE-KREUZFAHRT TAG 2
Gefühlt mitten in der Nacht werde ich mit chinesischer Folklore über das Schiffsradio geweckt. Ich mache mich fertig für den Tag und begebe mich auf das Oberdeck, denn dort gibt es den Early-Bird-Tea und ich kann den chinesischen Gästen beim Schattenboxen zuschauen. Direkt im Anschluss an das Frühstück verlassen wir das Schiff, denn wir haben über Nacht den Weg zu den Drei Kleinen Schluchten geschafft.
Für diese Schluchten ist unser Kreuzfahrtschiff zu groß, wir müssen auf ein kleineres Schiff umsteigen. Nach neunzig Minuten Fahrt ist der nächste Punkt erreicht: Wir begeben uns in die Kapillarflüsse, die nur mit kleinen Kähnen schiffbar sind. Früher waren sie nur mit Kajaks und Booten zu befahren, der Wasserstand betrug teilweise unter einem halben Meter. Das ist aufgrund des Drei-Schluchten-Programms hinfällig, die Wassertiefe liegt heute bei vierzig Metern.
Wenn der Wasserstand bereits in den kleinsten Nebenflüssen, viele Kilometer vom Staudamm entfernt, um ungefähr vierzig Meter gestiegen ist – es ist unvorstellbar, welche Wassermassen her aufgestaut werden…
Zurück auf unserem Kreuzfahrtschiff bekommen wir eine weitere Konsequenz des Drei-Schluchten-Programms zu spüren: Wo eigentlich Strudel und Stromschnellen sein sollten, ähnelt der Yangze nun vielmehr einer Seenplatte: Abgesehen von einer leichten Strömung ist das Einzige, was für Unruhe auf dem Wasser sorgt, die Bugwelle der Schiffe.
Während der Fahrt passieren wir die Qutang-Schlucht, besser bekannt als „Blasebalg-Schlucht“. Der Name kommt daher, dass das Wasser hier einst wie mit einem Blasebalg durch die Schlucht gedrückt wurde, dabei erreichte das Wasser eine Geschwindigkeit von sieben Metern pro Sekunde, was ungefähr 25km/h entspricht. Wollten wir das miterleben, müssten wir uns wohl eine Taucherausrüstung ausleihen und an den Grund des Yangze tauchen, denn in Höhe des Wasserspiegels ist weder etwas von der Fließgeschwindigkeit noch von der Enge der „Blasebalg“-Formation zu spüren.
Nachmittags lernen wir ein paar grundlegende Dinge über die chinesischen Schriftzeichen. Es gibt über 10.000, jedes Einzelne muss gelernt werden, Ableitung sind größtenteils unmöglich, und um eine Zeitung lesen zu können, muss ein Chinese mindestens 3000 dieser Zeichen kennen. Unsere Reiseleiterin hat uns erzählt, dass selbst ein Muttersprachler oftmals ein Lexikon (oder besser: Bilderbuch, denn die chinesischen Schriftzeichen sehen oft aus wie kleine Kunstwerke) benötigt, um ein Buch zu lesen.  
Den Rest des Tages ruhen wir uns aus, ich sitze auf dem Achterdeck und trinke eine lauwarme Cola (die Kühlschränke sind auf diesem Schiff wohl eher als Zierobjekte einzustufen, denn kalte Getränke gibt es nicht). Der Rest ist Warten auf Godot, oder besser: auf das Abendessen, doch bis dahin sind es immer noch neunzig Minuten. Das Programm ist für den heutigen Tag beendet.

11. Tag, Mo, 24.05.2010

YANGZE-KREUZFAHRT TAG 3
Heute morgen steht ein Besuch in Fengdu, einer Kleinstadt 171 Flusskilometer unterhalb von Chongqing gelegen, auf dem Programm. Auf dem dortigen Tempelberg Ming Shan befindet sich ein Ort, der allgemein als „Teufelsstadt“ bezeichnet wird.
Dort muss sich jeder Mensch (egal ob Chinese oder nicht) nach seinem Tod anmelden und drei Prüfungen überstehen, bevor er Zutritt erhält. In diesen Prüfungen muss er beweisen, dass er in seinem vergangenen Leben ein guter Mensch war. Anhand der Prüfungen wird das weitere Schicksal des Toten festgelegt.
Die Chinesen glauben, dass es zehn chinesische Höllen gibt (vergleichbar mit dem katholischen Fegefeuer), in denen man nach seinem Tod für die Sünden im Leben büßen muss.
Es ist ein gruseliger Ort, denn auf sehr plastische Art vermitteln Statuen, welche Folterqualen ein Mensch nach seinem Tod vor dem Höllengericht zu erwarten hat. Am Ende der zehn Höllen steht die Wiedergeburt, die ebenfalls mit dem Vorleben zusammenhängt: Hat man es arg krachen lassen, läuft man Gefahr, nur noch als Hund oder Wurm wiedergeboren zu werden. Der Weg zu einer menschlichen Wiedergeburt ist dadurch natürlich sehr mühsam, weshalb die Chinesen zu Lebzeiten um ein gutes Karma bemüht sind.

Am Abend veranstaltet die Crew der MV Three Kingdoms eine Cabaret Show für uns. Im Grunde unterscheidet sie sich nicht von den Abendveranstaltungen der letzten Tage: Die Mädchen führen verschiedene Tänze auf, zwischendurch dürfen sich die Gäste bei verschiedenen Spielen zum Affen machen. So verlief bereits am ersten Tag der Begrüßungsabend, am zweiten Abend das Captain’s Dinner und nun halt der Abschiedsabend. Heute gestalten die Chinesen das Ende des Abends mit exzessiver Karaoke, von der sie sich nicht abbringen lassen; das Niveau schwankt stark zwischen gut und grottenschlecht.
Wir gehen zeitig in die Kabinen, denn morgen müssen wir früh raus.

12. Tag, Dienstag, 25.05.2010

CHONGQING – XIAN
Morgens gehen Sie in Chongqing wieder an Land, und mit dem Flieger geht es weiter nach Xian. Auf dem Weg in die Stadt zeigt Ihnen Ihr Scout das Yangling-Museum mit faszinierenden Grabfunden. Zwei Übernachtungen.

Um acht Uhr verlassen wir das Schiff und betreten wieder Festland. Unser Bus bringt uns nach Chongqing, wo wir das Flugzeug Richtung Xi’an besteigen werden. Auf dem Weg zum Flughafen machen wir einen Zwischenstopp im Stadtzentrum und besichtigen den Volksplatz.
Wir erfahren, dass wir eigentlich nicht nur den Vormittag in Chongqing verbringen, denn bereits die letzten beiden Tage sind wir auf dem Yangze durch das „Stadtgebiet“ von Chongqing gefahren.
Die Erklärung: Bis zum Jahr 1997 war Chongqing für chinesische Verhältnisse eine Kleinstadt mit cirka acht Millionen Einwohnern. Doch dann wurde die Stadt von der Regierung in einen Stadtstaat umgewandelt. Das Stadtgebiet misst heute von Norden nach Süden 490 Kilometer und von Westen nach Osten 450 Kilometer. Die Grundfläche ist nahezu identisch mit der von Österreich. Mit 33 Millionen Einwohnern ist Chongqing übrigens die größte Stadt der Welt und vier Mal so dicht besiedelt wie Österreich.
Unsere lokale Reiseführerin, die uns leider nur etwas über zwei Stunden begleitet, erzählt uns während der Fahrt ihre Familiengeschichte. Was man über die Ein-Kind-Politik denken mag, sei jedem selbst überlassen, aber solch ein plastisches Beispiel verstört mich doch sehr.

 


 

Exkurs: Ein-Kind-Politik
Seit 1980 gibt es in China die Ein-Kind-Politik, die vom Regime von der Partei rigoros umgesetzt wird. Ziel soll es sein, das Bevölkerungswachstum einzugrenzen.
Grundprinzip ist, dass bis auf wenige Ausnahmen jede chinesische Frau nur ein einziges Kind haben darf. Folgende Familien dürfen zwei Kinder haben: (a) Bauern auf dem Land (um die Bewirtschaftung des Hofes zu gewährleisten), (b) Frauen, die bereits ein behindertes Kind haben, (c) Angehörige einer Minderheit.
Wird eine Frau schwanger, auf die keine dieser Ausnahmen zutrifft, hat die Familie mit schwerwiegenden Strafen zu rechnen, die von der Verweigerung des Kinderhortplatzes über Verlust der Arbeit bis zu finanziellen Einbußen reicht. Die finanzielle Belastung beträgt 15-30% des Jahresgehaltes über sieben Jahre hinweg, für das zweite Kind und 30-40% für das dritte Kind über 14 Jahre hinweg.

Kinder sind jedoch in China die einzige Altersvorsorge, denn ein Sozialsystem wie in Deutschland gibt es nicht. Das bedeutet, dass ein Ehepaar später für sich, seine eigenen Kinder und für seine vier Großeltern sorgen muss.
Dadurch wird die Ein-Kind-Politik für viele Ehepaare ein gut kalkuliertes Rechenspiel, denn meistens lohnt es sich, mehrere Kinder in die Welt zu setzen, die Strafe dafür abzuzahlen, dafür aber die Last der Altersversorgung auf mehrere Kinder zu verteilen.


Unsere lokale Reiseführerin erzählt uns, dass sie ein illegales Kind ist, denn sie hat einen vier Jahre älteren Bruder. Als ihre Mutter mit ihr schwanger war, wurde sie über die ersten Monate hinweg im Haus versteckt und fristete ihr Leben im Dunkeln hinter zugezogenen Gardinen. Ihr Mann erzählte überall im Dorf herum, dass seine Frau abgehauen sei. Eines Nachts ist sie dann zu Verwandten in die Berge geflohen, da das Risiko entdeckt zu werden zu groß wurde. Dort blieb sie über ein Jahr, arbeitete auf dem Feld mit und gebar zwischendurch ihr Kind. Erst als ihre Tochter ein Jahr alt war, kehrte sie in ihr Heimatdorf zurück.
Hintergrund war der, dass sie zuvor schon einmal schwanger war und von Offiziellen zur Abtreibung gezwungen wurde.
Man sollte sich einmal vor Augen führen, dass wir hier nicht über das Mittelalter reden, sondern über das 20. Jahrhundert. Es ist unfassbar, dass solche Geschichten heutzutage noch vorkommen, aber so ist das halt in einem Land, in dem Menschenleben nicht sonderlich viel zählen und Zwangsabtreibungen an der Tagesordnung stehen.

 

Am Flughafen von Xi’an angekommen, steigen wir direkt in den Bus, der uns zum Hotel bringt. Direkt? Niemals, erst geht es in Yangling-Museum, dann auf irgendeine Stadtmauer, dann zum Essen und danach erst ins Hotel. Als wir dort ankommen, ist es bereits 20.00 Uhr und der Abend ist gelaufen.
Aber noch mal etwas ausführlicher:
Das Yangling-Museum befindet sich auf einem zwanzig Quadratkilometer großen Areal, das ausschließlich die Grabstätte des Kaisers, seiner Frau und ein oder zwei Konkubinen beherbergt. Die genauen Details habe ich leider nicht mehr parat, aber es ist wohl kaum entscheidend, der wievielte Kaiser das jetzt war.
Die Gräber sind ausgehoben und stehen zur Besichtigung zur Verfügung. Vor über 2000 Jahren haben über 700.000 Menschen daran gearbeitet, unzählige Terrakottakrieger, -tiere aller Art, -töpfe, -tiegel, -döschen, Bronzewaffen und so weiter herzustellen und alles in unüberschaubarer Menge.
Es ist beeindruckend und somit ein gelungener Vorgeschmack auf die weltberühmte Terrakottaarmee, die wir morgen sehen werden…

13. Tag, Mittwoch, 26.05.2010

XIAN
Vormittags vor die Tore Xians zur weltberühmten Terrakotta-Armee. In voller Lebensgröße stehen die irdenen Wächter am Grab des ersten Kaisers von China stramm wie eh und je. Nachmittags Freizeit. Aber Sie können die alte Kaiserstadt auch auf einer Stadttour mit Ihrem Scout erkunden: Da geht’s zur Großen Wildgans-Pagode, ins Provinzmuseum und in die moslemische Altstadt mit der Großen Moschee. Abends noch Lust auf ein kühles Tsingtao-Bier im Kneipenviertel Defuxiang?

Nach der Terrakotta-Armee steige ich aus dem Programm aus, denn ich habe einen echten Culture-Overkill; in anderen Worten: es reicht! Laut Reiseführer würde sich die Wildgans-Pagode maximal wegen des Ausblicks auf die Stadt lohnen, der aber leider dadurch verhindert wird, dass die Fenster zu klein sind um durchschauen zu können.
Die Moschee möchte ich bewusst nicht besichtigen, denn ich fahre nicht knappe 6.000 Meilen bis nach China (also ein buddhistisches Land) um mir dann dort eine Moschee anzuschauen, da kann der Reiseführer noch so oft betonen, dass es die größte, schönste, (blabla) Moschee ganz Chinas ist und überdies Anlaufstelle für etwa 60.000 Moslems in der Umgebung.
Stattdessen fahre ich mit Jan zurück ins Hotel, und nachdem wir uns etwas Zeit gegönnt haben, fahren wir mit dem Taxi zum Pagoden-Park; Jan möchte dort ein paar Bilder machen.
Die Fahrt führt uns durch die hintersten Gassen Beijings und alleine deswegen hat sich die Fahrt für mich schon gelohnt.
Zusammenfassend kann ich sagen: Es war eine fast schon geniale Aktion. Wir sitzen mitten in der Rush Hour in einem Taxi, fahren quer durch Beijing, kommen am Park an, stellen fest, dass der Eintritt neunzig Yuan (knappe zwölf Euro) pro Person kostet, beschließen, dass uns das zu teuer ist, steigen erneut in ein Taxi, fahren quer durch die ganze Stadt zum Moslemviertel und steigen dort aus.
Dort ist die Hölle los, die Straßen sind voll von Menschen und Garküchen und Verkaufsständen und und und…
Wir streifen durch die Seitengassen, wo sich ein Laden an den anderen reiht, die Händler versuchen wild gestikulierend uns mit lauten „Hello, hello“-Rufen in ihre Läden zu locken, wo es dann originale T-Shirts à la Golce&Dabbana zu kaufen gibt, natürlich immer „better than original!“
Nebenbei haben wir uns fest vorgenommen, sämtliche Garküchen auszuprobieren und soweit ich es beurteilen kann, haben wir das auch geschafft. Ich habe es mir abgewöhnt, nachzufragen oder auch nur im Entferntesten zu spekulieren, was das sein könnte bzw. früher einmal war, was ich das grade esse, aber bis auf eine einzige Ausnahme schmeckt das alles hervorragend, auch wenn es größtenteils so pervers scharf gewürzt ist, dass es schon an Körperverletzung grenzt.
Der Abend endet damit, damit, dass wir an einem Massageschuppen vorbeikommen, spontan reingehen und dort versacken. Noch nie zuvor habe ich so eine erheiternde Massage erlebt: Wir können kein chinesisch, die Mädchen können kein englisch und das einzige Wort, das sie auf deutsch können, ist „scheiße“. Wir erleben somit die nächsten neunzig Minuten eine entspannende und erheiternde Massage, während der Sätze vorgesagt und von anderen wiederholt werden, ohne dass diese die Bedeutung wissen. Jan schlägt sich offensichtlich erstaunlich gut und doch habe ich Angst, dass er durch die falsche Betonung irgendeines Wortes einen Kühlschrank kauft oder gar die Partei beleidigt. Offensichtlich ist das nicht der Fall, denn sie lassen und gehen, und wir kommen um halb zwei am Hotel an.

14. Tag, Donnerstag, 27.05.2010

XIAN – BEIJING
Am Morgen Flug zurück in die chinesische Hauptstadt. Nachmittags frei für letzte Einkäufe: klassisch in der Antiquitätenstraße Liulichang oder auf dem Seidenmarkt, oder ganz zeitgenössisch: Chinadeko für zu Hause bei Dara, feinstes Jingdezhen-Porzellan bei Spin Ceramics … Oder Ihr Scout nimmt Sie noch einmal mit auf einen Ausflug: zum Sommerpalast am malerischen Kunming-See. Abends liegt Ihnen die Restaurantwelt Beijings zu Füßen! Ihr Scout bestellt Ihnen gerne ein Taxi und reserviert Ihnen auch gleich einen Tisch nach Ihrem Geschmack dazu – schick und scharf im Lord of Salt, Peking-Ente modern im Made in China oder oder oder …

Der Tag beginnt wie bereits viele Tage zuvor und auch das Grundgerüst ist das Gleiche; langsam werden wir Profis darin: Es heißt wieder einmal mitten in der Nacht aufstehen, Koffer packen (wenn nicht schon am Vorabend passiert), für mich gehört wieder mal Frühstück verpassen zum Programm, was allerdings nicht dramatisch ist, denn auf dem Flug gibt es ja schließlich auch Verpflegung.
Als wir gerade gut zehn Minuten mit dem Bus unterwegs sind und irgendwo in Xian im Stau stehen, kommt unsere Reiseleiterin zu Jan und mir und spricht uns darauf an, dass wir wohl am Vorabend nicht wie abgesprochen das Geld an der Rezeption hinterlegt haben. Sie hat dort nachgefragt, angeblich ist aber kein Umschlag für sie hinterlegt worden. Da wir es besser wissen, sagen wir ihr, dass es dort definitiv einen Umschlag mit umgerechnet etwa 300,- Euro geben muss.
Also drehen wir auf der Stelle um und fahren zurück zum Hotel und stürmen Richtung Rezeption. Oh Wunder, plötzlich gibt es diesen ominösen Umschlag, verborgen in einer Schublade an der Rezeption. Der Concierge schaut uns verlegen an und ich bin mir nach wie vor nicht sicher, ob das ein Unterschlagungsversuch gewesen ist oder einfach nur Missmanagement. Für uns jedenfalls ist es ein ärgerlicher Zeitverlust.
Am Flughafen ist es brechend voll und wir stehen uns bereits am CheckIn die Beine in den Bauch. Warum anscheinend jeder Chinese fluchtartig die Stadt Xian verlassen möchte, ist mir schleierhaft, doch möchte ich nicht der einzige verbliebene Mensch in der Stadt bleiben und stelle mich auch am Schalter an.
Da jeder, der am CheckIn steht, logischerweise im Anschluss auch durch die Sicherheitskontrolle muss, brauche ich wohl nicht erwähnen, was dort passiert… Richtig, wir stehen uns die Beine in den Bauch. Während der Rest der Gruppe sich schon anstellt, besorge ich mir noch ein kaffeeartiges Getränk, das dem Preis nach zu urteilen mindestens Perlenstaub enthalten muss. Als ich zurückkomme, hat sich nichts geändert, alle stehen noch immer an der gleichen Stelle und warten. Dummerweise hat das Boarding bereits begonnen und als wir durch die Kontrolle durch sind, behauptet meine Uhr, es seien nur noch sieben Minuten bis zum Abflug. Langsam werde auch ich ein wenig nervös, wir rennen also quer durch den Flughafen und erreichen just-in-time den Flieger. Natürlich sitzen wir ziemlich weit hinten und ich weiß jetzt wie sich ein Spießrutenlauf anfühlt…
Nach cirka zwei Stunden Flug kommen wir zeitig in Beijing an. Natürlich geht es noch nicht ins Hotel, wie wir ja bereits vor Tagen gelernt haben, wäre das Zeitverschwendung. Statt dessen stapeln wir uns, unsere zwölf Koffer und unser gesamtes Handgepäck in einen Kleinstbus mit siebzehn Sitzplätzen. Die Doktrin verbietet auch Mittagessen, Grund: siehe oben. Statt dessen fahren wir gleich zum Sommerpalast, einem Paradebeispiel für grenzenlose Dekadenz: Hier steht nicht nur eine Hütte oder ein schickes Haus, nein! Auf 290 Hektar stehen diverse Häuser, für jedes Mitglied der Kaiserfamilie eines, des Weiteren Audienzhäuser, auf der Bergkuppe wurde ein kompletter buddhistischer Tempel errichtet, auf den sich die Kaiserfamilie zweimal im Monat in Sänften hat herauf tragen lassen um dort zu beten. Der Gipfel an Dekadenz ist der Kunming-See, natürlich riesig groß (etwa Dreiviertel des gesamten Areals) und (wie zu erwarten war) künstlich angelegt.
Relativ zu Beginn der Führung gehen drei von uns auf mysteriöse Weise verloren, die Folge ist eine Palastrevolution: Da es in diesem Gedränge wenig Sinn macht, setzen wir durch, dass jeder den Palast auf eigene Faust erkundet. Auch wenn das zunächst für verwirrung sorgt, haben wir Erfolg und unsere Wege trennen sich erst einmal.
Nach dem Sommerpalast folgt der Kaffeefahrt x-ter Teil: Nach einer Perlenfabrik, einer Seidenstickerei, einer Terrakottafabrik (und und und…) besuchen wir nun die Seidenstraße, die nichts anderes ist als ein riesiges Gebäude, das einen gigantischen Basar beherbergt: Unzählige Stände sind dicht an dicht aufgereiht und uns bleibt nichts anderes übrig, als es systematisch angehen zu lassen, vom sechsten Stock beginnend kämpfen wir uns durch bis ins Erdgeschoss.
Erste Station ist ein Krawattenladen, wo Jan eine Krawatte kaufen möchte. Das Startgebot liegt bei 280 Yuan für eine Krawatte („echte Seide“), was etwa 42 Euro entspricht. Nach knallharten Verhandlungen ersteht er zwei Stück für zusammen 220 Yuan (33 Euro). Das ist ein guter Preis und so beeilen wir uns weg zu kommen, zumal grade eine von den Mädchen an dem Stand nichts anderes zu tun hatte als mir ihre Liebe zu gestehen und mir einen Heiratsantrag zu machen. Leider hätte sie aber nicht mehr in meinen Koffer gepasst und für’s Handgepäck war sie auch nicht geeignet.
Bei der zweiten Station bandelt Jan dann mit einem Mädchen im Teeladen an, denn das scheint eine gute Verhandlungstaktik zu sein. Und tatsächlich: Das Teeservice geht von 680 Yuan auf 280 Yuan runter. Respekt dafür an Jan!
Als wir uns alle wieder vor dem Laden versammelt haben, passiert etwas, womit ich nicht mehr gerechnet hätte: Wir fahren tatsächlich ins Hotel! Eine knappe Stunde haben wir dort Zeit, denn wir wollen noch ein letztes Mal gemeinsam essen gehen. Unsere Reiseleiterin organisiert uns ein Restaurant in der Nähe des Hotels und ich persönlich bin begeistert, denn ich wage zu behaupten, dass ich nie zuvor auf dieser Reise so gut gegessen habe. Da hat sie sich echt selbst übertroffen.
Beijing hat ein Hard Rock Café, und dort führt mich der Weg nun hin. Jan und ich besteigen das Taxi und nach etwa zwanzig Minuten (oder auch: geschätzten 2,25 Euro) sind wir schon da. Hurricane spielt auf, eine Amateur-Coverband mit einem breiten Sortiment von Bon Jovi über Rolling Stones bis hin zu den Eagles, doch sie sind genial. Wir setzen uns ins Café und bleiben dort etwa zwei Stunden.
Als wir wieder im Hotel ankommen, ist es bereits ein Uhr morgens und in einem Zustand geistiger Umnachtung bestellen wir uns einen Wake-up-Call für vier Uhr (jawohl, vier Uhr!). Als ich um halb zwei meinen Koffer fertig gepackt habe, überlege ich kurz, ob es überhaupt noch Sinn hat, sich hinzulegen, entscheide mich dagegen und gehe dann trotzdem ins Bett.

15. Tag, Freitag, 28.05.2010

RÜCKFLUG VON BEIJING
Vormittags Transfer zum Flughafen und Rückflug mit Hainan Airlines nach Berlin (Flugdauer ca. 10 Std.). Ankunft am Nachmittag. 

Es ist so grausam, dass mir wirklich die Worte fehlen! Um vier Uhr klingelt das Telefon und ich würde den Concierge am anderen Ende der Leitung gerne auf das Wildeste beleidigen, doch erstens ist es eine Bandansage und zweitens fällt mir wieder ein, dass ich den Weckruf ja selbst bestellt habe. Während ich noch darüber nachdenke, warum ich das getan habe, döse ich wieder weg und werde um 4.20 Uhr erneut geweckt, diesmal von Jan, der vor der Tür steht. Jetzt erinnere ich mich auch wieder: Ich hatte gestern vorgeschlagen, zum Tian’anmen zu fahren, wo jeden Morgen in einer Zeremonie die Fahne gehisst wird. Laut Reiseführer findet das bei Sonnenaufgang statt, was eine sehr präzise Zeitangabe ist, zumal in Beijing so wie in den meisten Gegenden Chinas die Luft so dreckig ist, dass eine riesige Smogglocke über der Stadt liegt und man die Sonne maximal erahnen kann.
Um 4:45 Uhr stehen wir auf dem Platz, erstaunlicherweise sind wir nicht die Einzigen – eine lange Schlange großer Reisebusse ist bereits vorgefahren und hat einen Haufen Touristen freigelassen. Soweit ich sehen kann sind es ausschließlich Chinesen, wir sind die einzigen Langnasen auf dem gesamten Platz. Mein Plan, sich unauffällig unters Volk zu mischen, scheitert somit kläglich.
Um 4:50 Uhr startet die Musik, ich nehme an, dass es die Nationalhymne ist. Die Fahne ist bereits angeschlagen und so beginnen zwei Soldaten mit dem Hissen. Um den Fahnenmast herum stehen fünfzehn weitere Soldaten Spalier und noch einmal zehn stehen vor den Zuschauern parat. Direkt vor uns steht ein Jungspund (ich würde ihn auf maximal 16 Jahre schätzen), der starken Seegang hat: Er schwankt die ganze Zeit hin und her und reißt ab und an die Augen auf, plötzlich hört das Schwanken auf: Jetzt ist er endgültig eingeschlafen. Ich würde gerne ein Foto davon machen, doch lasse ich es besser sein, nicht dass das noch rauskommt und irgendwelche Folgen für ihn hat…
Zurück im Hotel lege ich mich noch einmal für ein paar Stunden hin, denn wir müssen erst um zehn Uhr antreten. Das Frühstück verpasse ich heute wieder, denn ich laufe später noch einmal zum Tian’anmen und bin erst um 9.45 Uhr zurück. Macht nichts, essen ist Zeitverschwendung und außerdem haben wir im Flugzeug Vollpension gebucht.